Die Aufgabe: 87,2 x 0,187 Dezimeter. Noah* hat die Lösung in 58,79 Sekunden. Ohne Taschenrechner, nur mit Filzstift, Karopapier und Kopfarbeit. Sie lautet: 16,3064 Dezimeter. Multiplikation mit Kommazahlen steht über dem Kapitel in seinem Matheheft. Es ist für Schüler der Klasse sieben. Noah ist acht. Was ihn zu einem Drittklässler macht – einem, der beim Rechnen als außerordentlich begabt gilt.
Heute ist der letzte Tag vor den Weihnachtsferien. Bis zu den nächsten Zeugnissen ist es zwar noch etwas hin, eine Art Leistungsbewertung, unterschrieben von einer Landesbeauftragten, gab es aber schon jetzt. Sie liegt auf dem Küchentisch. Oben ist ein einziges Wort fett gedruckt – Urkunde – darunter, etwas kleiner, der Rang – 1. Platz. Und dazwischen steht Noahs Name. Der Junge strahlt. Das Ergebnis des Regionalwettbewerbs der 64. Mathematik-Olympiade ist da.
Aus Neugier das Volumen des Kinderzimmers berechnet
Seine Eltern sagen, dass er früh mit dem Rechnen angefangen hat. Früh und irgendwie auch unvermittelt. Einmal sah sein Vater, wie er mit dem Zollstock mehrere Wände ausmaß. Später wollte Noah von ihm wissen, wie viel eigentlich die Entsorgung von Bauschutt kostet, so von einem Kubikmeter. Am Ende gab es von Noah eine Rechnung darüber, wie viel seine Eltern hätten bezahlen müssen, wenn sein Kinderzimmer voller Schutt gewesen wäre. Sie wissen nicht mehr, wie hoch der Betrag war. Noah zeigte ihnen die Kalkulation, als noch niemand von seiner mathematischen Begabung sprach.
Inzwischen machen das Lehrer und Stifter, die zum zweiten Mal dafür gesorgt haben, dass Noah gefördert wird. Man könnte auch gefordert sagen. Im vergangenen Schuljahr war er der einzige Zweitklässler an seiner Schule, der im Matheunterricht von Viertklässlern saß. In diesem ist er beim Rechnen wieder unter Gleichaltrigen, aber eben der einzige Schönebecker Grundschüler, der Aufgaben für Oberschüler bekommt. Und der beim Lernen durch eine pädagogische Kraft unterstützt wird, die die Schütting-Stiftung finanziert.
Noah ist manchmal ungeduldig. Das sagt er selbst. Und zeigt es auch. In seinem Heft sind mal hier Aufgaben gelöst, mal dort – aber nie Seite für Seite. Oder Kapitel für Kapitel. Klammern auflösen, gemischte Zahlen subtrahieren, lineare Gleichungen: Alles wird ausprobiert, aber nicht alles Aufgabe für Aufgabe gelöst. Er bearbeitet das, worauf er Lust hat und was er sich bereits selbst erschließen kann.

Noahs Matheunterricht ist anders als bei anderen: Seine Begabung wird von einer pädagogischen Kraft gefördert.
Bisher ist er nie von einem Schulpsychologen untersucht worden, hat nie einen Test absolviert, mit dem die Bildungsbehörde nach eigenem Bekunden prüft, ob ein Schüler besondere Fähigkeiten hat. Dass Noahs analytisches Denkvermögen als ungewöhnlich hoch eingestuft wird, wissen die Eltern von Förderern und Lehrern, die sich um ihn kümmern. Und die sich jetzt erneut dafür eingesetzt haben, dass sein Matheunterricht anders ist als der von anderen Kindern – nicht nur, weil er inhaltlich drei Klassen auf einmal übersprungen hat.
Theo, sein jüngerer Bruder, sagt, stolz auf Noah zu sein – und Noah, dass auch Theo ein guter Rechner ist. Genauso wie Pavel, Angelina und Matthies. Der jüngere Bruder geht in die erste Klasse, die drei anderen in dieselbe wie Noah. Alle vier, meint er, kommen schnell zu einer Lösung. Er weiß das, weil er ihnen manchmal beim Rechnen zugeschaut hat. Bei Theo zu Hause, bei Pavel, Angelina und Matthies in der Schule. Dass ihre Aufgabenhefte nichts mit seinem Heft zu tun haben, quittiert er mit einem Achselzucken. Und mit einer kurzen Frage: Na und?
Im Alltag ein "ganz normales" Kind
Die Eltern finden, dass ihr ältester Sohn nicht anders ist als der jüngere. Und nicht anders als andere Kinder. Auch wenn er fast täglich von Pädagogen zu hören bekommt, wie bemerkenswert seine Rechenleistung ist. Und genauso oft merkt, dass er im Matheunterricht eine Sonderstellung hat. Noah winkt ab. Von seinen Eltern will er wissen, ob nicht Theo seine Förderung bekommen kann, wenn er nach der vierten Klasse die Schule wechselt. Seine Mutter lacht.
Dass sich Noah im Alltag nicht von anderen Kindern unterscheidet, wird spätestens in seinem Zimmer sichtbar: Am Schreibtisch, auf dem Chaos herrscht. Stifte, Bücher, Spiele, Hefte – alles liegt durcheinander. Genauso wie vor Kurzem noch auf dem Fußboden. Auch Noah muss regelmäßig gesagt werden, dass niemand nirgendwo mehr treten kann und jetzt aufgeräumt wird. Auch er spielt in der Schule und zu Hause am liebsten mit anderen draußen Fußball. Auch er wünscht sich zu Weihnachten ein Konsolenspiel.
Wo Mathe in Noahs Ranking steht, lässt sich von einem Foto ableiten. Es liegt zwischen den Seiten eines Zeugnisses und zeigt die Klasse. Alle haben sich verkleidet – manche als Pirat, Indianer, Cowboy. Und Noah als Taschenrechner.
*Um ihre Privatsphäre zu wahren, will die Familie ihren Nachnamen nicht öffentlich machen.