„Aus meiner tiefsten Seele zieht/ mit Nasenflügelbeben/ ein ungeheurer Appetit/ nach Frühstück und auf Leben.“ Diese Schlusszeilen eines wonnevollen Poems des Lyrikers, Erzählers und Malers Joachim Ringelnatz (1883 bis 1934) gehört zu den Gedichten, die Andrea Eldagsen im Vegesacker Geschichtenhaus inszeniert. Unter der Regie von Christa Präger vom Statt-Theater Vegesack ist ihre Aufführung weit mehr als eine Lesung, vielmehr eine Folge kleiner, in sich geschlossener Theaterszenen. An vier Abenden wird Andrea Eldagsen eine bunte Mischung von Gedichten präsentieren, die Ringelnatz in vielen Facetten zeigen.
Der Dichter, der eigentlich Hans Gustav Bötticher hieß, ist vor allem wegen seiner humoristischen Gedichte auch heute noch bekannt und beliebt. Der Mann mit dem etwas skurrilen Aussehen befuhr als Schiffsjunge alle Weltmeere und übte in dieser Zeit mehr als 30 Nebenberufe aus, war danach phasenweise arbeitslos und obdachlos und hatte eine ausgesprochene Freude an Trinkgelagen. Zu einem geregelten Arbeitsleben und Alltag nicht bereit, zog er nach seiner Seemannszeit als fahrender Sänger durchs Land und nahm alle möglichen Gelegenheitsarbeiten an. Seine zahlreichen Bühnenauftritte wurden mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gestoppt, und auch seine Bücher wurden beschlagnahmt oder verbrannt. Ringelnatz starb im Alter von nur 51 Jahren an Tuberkulose.
„Ich habe eine besondere Beziehung zu Ringelnatz, er und ich passen gut zusammen“, sagt Andrea Eldagsen. „er hat Lustiges und Trauriges, aber auch Chaotisches geschrieben, von dem einiges in Richtung Dada geht.“ Ringelnatz anarchisches Temperament war von den militärischen, erzkonservativen und nationalistischen Tendenzen in der Weimarer Republik angewidert, und hielt ihnen zum Beispiel die Turner-Gedichte entgegen: Beim Gedicht „Der Klimmzug“ hebt Andrea Eldagsen mit beiden Armen eine Stange über ihren Kopf und deklamiert: „Das ist ein Symbol für das Leben. Immer aufwärts, himmelan streben! Feste zieh! Nicht nachgeben! Stelle dir vor: Dort oben winken Schnäpse und Schinken.“ Der Spott gilt Johann Friedrich Ludwig Christoph Jahn (1778 bis 1852), als Turnvater Jahn bekannt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Turnbewegung gründete, für die der Sport jedoch nur ein Vorwand war: Sie diente vor allem der nationalistischen Willensbildung und kam einer paramilitärischen Ausbildung gleich. „Diese Bewegung war Ringelnatz zutiefst verhasst“, sagt Andrea Eldagsen – und der Dichter machte sich in Gedichtform lustig über sie.
Doch der Lyriker konnte auch anders: zum Beispiel Gedichte aus der Sicht von Kindern schreiben, die später von der Polizei verboten wurden – nicht zuletzt wegen zuweilen obszöner Anklänge und mangelnder Gottesfurcht, wenn es zum Beispiel heißt: „Lieber Gott, recht gute Nacht,/ ich hab noch schnell Pipi gemacht,/ damit ich von dir träume.“ Am bekanntesten ist wohl das Gedicht von den Ameisen, die nach Australien wollen, denen aber schon in Hamburg-Altona die Beine weh tun, so dass ihnen schnell die Lust am Reisen vergeht.
Doch außer den lustigen, zuweilen recht simpel gestrickten Gedichten, die aber oft mit überraschenden Pointen enden, hat Ringelnatz auch ernste Zeilen verfasst, besonders, als er unter seiner Lungenkrankheit litt: „Wenn ich tot bin, darfst du gar nicht trauern, meine Liebe wird dich überdauern“, schrieb er für seine weit jüngere Frau, die sich nach seinem frühen Ableben neu verheiratete und Ringelnatz mehr als 40 Jahre überlebte.
„Es gibt zahllose Lesungen zu Ringelnatz, aber keiner spielt die Gedichte“, sagt Andrea Eldagsen, die lange beim Statt-Theater Vegesack gespielt, dann pausiert und getanzt hat. „Aber ich bin eine Rampensau und vielleicht fange ich dort wieder an“, sagt sie.