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Statt-Theater Vegesack Joachim Ringelnatz: Wie man Gedichte auch spielen kann

Anstatt als Gedicht bringt das Statt-Theater Vegesack die Werke von Joachim Ringelnatz als kleine Theaterszenen auf die Bühne. Wie die Premiere verlief.
15.01.2023, 13:33 Uhr
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Von Jörn Hildebrandt

„War einmal ein Bumerang/ War ein Weniges zu lang. Bumerang flog ein Stück,/ Aber kam nicht mehr zurück./ Publikum – noch stundenlang/ – Wartete auf Bumerang.“ Mit diesem Gedicht leitet Andrea Eldagsen im Vegesacker Geschichtenhaus einen Ringelnatz-Abend der besonderen Art ein. Die Inszenierung mit dem Titel „Ein ungeheurer Appetit auf Frühsück und auf Leben!“ war ungewöhnlich, denn die Gedichte wurden nicht lesend vorgetragen, sondern wie kleine Theaterszenen gespielt. Unter der Regie von Christa Präger vom Statt-Theater Vegesack gelang es der Schauspielerin Andrea Eldagsen hervorragend, durch Gestik und Mimik mit nur wenigen Requisiten Gedanken, Bilder und Handlungen zu veranschaulichen – so erhielten die inszenierten Gedichte ein ungeahnt lebendiges Gepräge.

„Joachim Ringelnatz, der von 1883 bis 1934 lebte, wuchs noch in den Hoch-Zeiten des Kolonialismus auf, und Frauen aus der damaligen deutschen Kolonie Samoa hatten es ihm besonders angetan“, sagt Andrea Eldagsen. Als Seefahrer, der auf allen Weltmeeren zu Hause war, hatte Ringelnatz Gelegenheit, die Südsee-Schönheiten kennenzulernen. Doch die maritime Epoche seines Lebens war nicht nur von Freuden erfüllt: „Die Besatzung reagierte sich an dem körperlich etwas missratenen Ringelnatz ab, doch aus den Demütigungen, die er erfuhr, entwickelte er seine Kultfigur Kuttel Daddeldu“, sagt Andrea Eldagsen, die auch Geschichten über diesen wüsten Seemann zum Besten gab.

Nicht selten durch Alkohol enthemmt, dachte Ringelnatz sich Märchen und Fantasien aus, reiste im Geist in ferne Länder oder verstand es, Gegenstände zum Leben zu erwecken: „Der Briefmark erlebte was Schönes, bevor er klebte/ Er war von einer Prinzessin beleckt/ Da war die Liebe in ihm erweckt/ Er wollte sie wieder küssen,/ Da hat er verreisen müssen./ So liebte er sie vergebens./Das ist die Tragik des Lebens!“

Gedichte wie diese waren so gut bekannt, dass die Schlusszeilen von einigen im Publikum laut mitgemurmelt wurden. Doch wenn Kuttel Daddeldu, längst nicht mehr ganz nüchtern, sein Enkelkind in die Geheimnisse von St. Pauli einweihte, herrschte wieder Schweigen. Ringelnatz hatte auch eine Vorliebe für Gedichte aus der Sicht von Kinderaugen – sie wurden zu einem ganzen Buch, das später verboten wurde, weil man in ihnen eine sittliche Gefahr für die Entwicklung der Kinder sah. Zeilen wie: „Ich bin ein ungezognes Kind,/ Weil meine Eltern Säufer sind./ Verzeih mir, dass ich gähne./ Beschütze mich in aller Not,/ Mach meine Eltern noch nicht tot/ Und schenk der Oma Zähne.“ - gehören noch zu den harmlosen. Schlimmer wird es, wenn Ringelnatz „Himmelsklöße“ beschreibt, bei denen es sich um zerrissenes Papier handelt, das in den ungeleerten Nachttopf getaucht und an die Zimmerdecke befördert wurde – was Kindern nicht zur Nachahmung empfohlen sei.

Außer vielen Poemen, die Schmunzeln lassen, hatte Ringelnatz jedoch auch eine dunkle Seite: Aus ihr kamen Gedichte ans Licht, die für heutige Ohren nur schwer zu ertragen sind: In „Das Terrbarium“ werden nicht Pflanzen gepresst, sondern auch Tiere, wobei man für ein Nashorn schon eine erhebliche Fläche braucht. Und schließlich kommt sogar eine Mulattin in die Presse, um die Sammlung zu vervollständigen.

Doch auch die sanfte Seele des Dichters bringt Andrea Eldagsen zur Sprache: So sitzt der stets von Geldsorgen geplagte Ringelnatz nachts in den Parkanlagen und weint, ermüdet vom Lebenskampf, er geht am Heiligabend arm und frierend an Hamburger Patrizierhäusern entlang oder schreibt das Tagebuch eines Bettlers – Situationen des Elends wechseln sich ab mit freudigen, wenn er zum Beispiel in die Wanne springt, sich schrubbt oder beobachtet, wie sich der Schwamm mit Wasser vollsaugt. Schließlich gibt Ringelnatz auch unerwartete Einblicke in seine Arbeitsweise, indem er erklärt, wie seine Gedichte entstehen: Er taucht Maikäfer in Tinte und lässt sie anschließend übers Papier krabbeln.

Mit einem Strauß bekannter Gedichte – darunter das von den Ameisen, die auf ihre geplante Australienreise verzichten, weil ihnen bereits in Hamburg-Altona die Beine wehtun – klang ein Abend aus, der viele Facetten von Joachim Ringelnatz zeigte und der sein Finale mit den Zeilen fand: „ein ungeheurer Appetit auf Frühstück und auf Leben!“

Info

Die bereits terminierten Ringelnatz-Inszenierungen sind ausverkauft. Wegen der großen Nachfrage sind jedoch drei weitere Abende mit dem Titel „Ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und auf Leben“ im Vegesacker Geschichtenhaus, Zum Alten Speicher 5a, geplant. Die Termine dafür sind der 27. und 29. Januar sowie der 17. Februar. Der Eintritt kostet an der Abendkasse 15 Euro, ermäßigt zwölf Euro, im Vorverkauf zwölf, ermäßigt neun Euro. Karten sind bei der Buchhandlung Otto & Sohn, Breite Straße 21-22, unter Telefon 661 16 10 sowie online unter www.statt-theater-vegesack.de erhältlich.

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