Paragraf zwölf, Absatz eins, Nummer eins: Jürgen Wiener weiß inzwischen auswendig, gegen welche Passage der Straßenverkehrsordnung er verstoßen hat – nur verstehen, kann er das trotzdem nicht. Da hilft weder die Belehrung des Ordnungsdienstes noch die Begründung des Amtes oder die Bestrafung durch das Gericht. Der Vegesacker hat in der Kimmstraße geparkt, die nach Ansicht der Behörde so schmal ist, dass für sie ein Halteverbot gilt. Und zwar auch ohne Halteverbotsschild. Was genau das ist, was Wiener nicht einleuchtet.
Er kennt inzwischen nicht nur Paragrafen aus dem Effeff, von denen er vorher nie gehört hat, sondern auch ein festgeschriebenes Maß, das ihm bisher unbekannt war: 3,05 Meter – so viel Platz muss nach dem Gesetz mindestens neben einem parkenden Auto für die Durchfahrt anderer Fahrzeuge bleiben. Wiener hat es später, als der Bußgeldbescheid von der Behörde da war, nachgemessen. In seinem Fall waren es 2,85 Meter, die freigeblieben waren. Der Vegesacker fährt kein großes Auto, sondern einen Renault Zoe, der als Kleinwagen gilt und 1,96 Meter breit ist, ohne Außenspiegel. Auch das hat er nachgemessen.
Wiener, 82, früher Neustädter, seit 20 Jahren Vegesacker, sagt über sich, nicht kleinlich zu sein: Wenn er etwas falsch gemacht hat, dann stehe er auch dafür ein. Nur, meint er, in diesem Fall eben keinen Fehler gemacht zu haben. Als er in der Kimmstraße parkte, fuhr ihm zufolge ein DHL-Transporter an seinem Wagen vorbei. Genauso wie an den anderen Autos, die vor ihm abgestellt und weitaus breiter waren. Wie der Mercedes. Wiener sagt, dass man den auf dem Foto erahnen kann, den der Ordnungsdienst von seinem Zoe gemacht hat. Die Aufnahme kam nicht gleich mit dem Bußgeldbescheid, sondern mit der Mahnung.

Eine Straße, die im Verkehrsausschuss immer wieder Thema ist: Wer dort parkt, muss damit rechnen, einen Bußgeldbescheid zu bekommen.
Wiener hat nämlich nicht gezahlt, sondern Einspruch eingelegt. Er findet, dass an den Anfang einer Straße, in der nicht gehalten oder geparkt werden darf, auch ein Verbotsschild gehört. Und dass man von niemandem erwarten kann, den speziellen Paragrafen zu kennen. Oder die Breite einer Straße exakt einschätzen zu können. Oder immer einen Zollstock parat zu haben. Wiener ist gelernter Ingenieur, der viel auf Baustellen zu tun hatte. Er meint deshalb, ein geschultes Auge zu haben und zu wissen, ob der Platz neben seinem Wagen breit genug für einen anderen ist. Nur kann er eben nicht auf den Zentimeter genau schätzen.
Das hat er alles auch dem Amt geschrieben, um zu erklären, warum er die 35 Euro wegen Parkens an einer engen Stelle nicht zahlen will. Und ein weiteres Mal, als es um 63,50 Euro ging, weil die Mahngebühr dazukam. Über Monate zog sich das Verfahren, bis sein Fall vor dem Blumenthaler Amtsgericht verhandelt wurde, was knapp 15 Minuten gedauert hat. Im Juni war das. Wiener sagt, der Richterin erläutert zu haben, was er allen anderen erklärt hat. Und noch mehr. Zum Beispiel, dass er einen Fahrlehrer gefragt hat, ob der schon mal von einem Halteverbot ohne Verbotsschild gehört habe. Er soll verneint haben.
Wieners Fall ist kein Einzelfall. Seit Jahren beschäftigt sich der Vegesacker Verkehrsausschuss mit der Kimmstraße und anderen Straßen, die ähnlich schmal sind wie sie. Beispielsweise die Halenbeckstraße und die Bermpohlstraße, die parallel zu ihr verlaufen. 2015 ging es um 500 Verwarnungen, die allein in einem Jahr an Falschparker ausgesprochen wurden – und wie sie verhindert werden können. 2017 empfahl das Gremium, die Straßen noch mehr zu überwachen. Die Mitglieder kamen zu dem Schluss, dass die wenigsten Autofahrer vom Halteverbot wissen. Ohne daran etwas zu ändern.
Auch für Wiener hat sich nichts geändert – mit Ausnahme der Höhe des Betrages, den er jetzt zu zahlen hat. Zu den 63,50 Euro kommen ihm zufolge nun noch eine zweite Mahngebühr plus die Gerichtskosten. Unterm Strich geht er jetzt von einer dreistelligen Summe aus. Die Frist, um in Berufung zu gehen, ist inzwischen verstrichen. Wiener sagt, lange hin und her überlegt zu haben. Um sich am Ende selbst eine Antwort auf eine für ihn entscheidende Frage zu geben: Dass bei einem so geringen Streitwert kein Anwalt bereit gewesen wäre, seinen Fall zu übernehmen.