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Brutplatz Waller Fernsehturm Familiendrama bei den Wanderfalken

Ein Familiendrama der besonderen Art: Hausfriedensbruch, Kindeswohlgefährdung und Mord unter Wanderfalken am Fernsehturm in Bremen-Walle. Sven Eppler dokumentiert seit 20 Jahren das Leben der seltenen Vögel.
08.07.2024, 05:01 Uhr
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Von Anke Velten

Hausfriedensbruch, Kindeswohlgefährdung und ein brutaler Mord: Am Himmel über Walle spielten sich in den vergangenen Monaten Dramen ab. In den Hauptrollen: Ein selbstverliebter Hallodri und eine verzweifelte Mutter. Tatort: Der Brutkasten der Wanderfalken auf dem Utbremer Fernsehturm. Von nichts davon hätte irgendwer hier unten die leiseste Ahnung – gäbe es nicht einen Augenzeugen, der die Geschehnisse genau beobachtet und minutiös dokumentiert. Seit nunmehr 20 Jahren hat Sven Eppler das Leben der Bremer Wanderfalken im Blick. In dieser Zeit hat er spektakuläre Aufnahmen gemacht und wertvolle Erkenntnisse für die Erforschung der seltenen Wildvögel gesammelt.

Dabei hatte im Frühjahr alles so gut angefangen, erzählt Eppler. Falke Harlekin und seine Lilly (Terzel und Weib, wie Ornithologen sagen würden), seit gut sieben Jahren verbandelt, hatten wieder für Nachwuchs gesorgt. In den Tagen vom 8. bis zum 15. März landeten nach und nach vier Eier auf dem feinkörnigen Kies des Falkenkastens. Drei Wochen lang kümmerte sich das Paar mit der gewohnten Arbeitsteilung um die Brut: Ein Elternteil hielt die Eier warm, während das jeweils andere sich auf die Jagd machte und für Nahrung sorgte – immer schön abwechselnd, im Rhythmus von maximal zwei Stunden. Doch nach etwa drei Wochen war es mit dem Familienidyll vorbei.

Ein Eindringling

„Plötzlich saß da ein fremder Falke ganz seelenruhig auf der Anwarte“, erzählt Eppler. Von Falkenvater Harlekin keine Spur. Es nützte nichts, dass Falkendame Lilly den Rivalen laut schreiend vertreiben wollte – der Eindringling hatte keinerlei Absicht, sich wieder zu verziehen. Das Perfide, so der 62-Jährige: Er gab nur vor, sich an der Erziehungsarbeit zu beteiligen. Weder bequemte er sich, die Brut während der mütterlichen Abwesenheit zu wärmen, noch versorgte er die Familie mit Futter. „Er saß nur dekorativ herum und putzte sich“, erzählt Eppler. „Ein echt fauler und eitler Gigolo.“

Für Mutter und Nachwuchs war die Vernachlässigung lebensgefährlich. „Ich war mir ziemlich sicher, dass die Küken das nicht überleben“, sagt Eppler. Doch am 15. April erblickten immerhin drei davon das Licht der Stadt. Nur vier Tage später entdeckte er vor dem Eingang des Funkturms ein flauschiges Bündel. Aus hundert Metern Höhe war eines der Jungen vom Turm gestürzt. Ein Tatverdächtiger war schnell ausgemacht: der Gigolo. „Das Küken war noch zu klein, um den Ausgang zu erklimmen“, erklärt Eppler. „Die Mutter würde niemals eines ihrer Jungen aus dem Kasten werfen.“

Kaum Hoffnung

Auch für die übrigen beiden Geschwister bestand kaum Hoffnung, stundenlang ungeschützt im eisigen Ostwind zu überleben. Der „Stiefvater“ zeigte nach wie vor keinerlei Beschützerinstinkt. „Die Mutter musste sich ganz allein um die Jungen kümmern“. Statt die Kleinen mit seinem Gefieder zu wärmen – hudern nennt das der Fachmann – beschäftigte sich der Gigolo weiter nur mit sich selbst. Während der mütterlichen Jagdflüge „zitterten die Jungen bei fünf Grad Kälte und Ostwind, wurden immer schwächer und apathisch“, erzählt Eppler, der heimlich mitzitterte.

Der gelernte Dreher, der nach einer schweren Erkrankung seinen Beruf aufgeben musste, engagiert sich seit 2004 rein ehrenamtlich für den Wanderfalkenschutz. Zu seiner primären Aufgabe gehört es, die sechs Falkenkästen auf Bremer Stadtgebiet jährlich zu reinigen und zu inspizieren. Doch tatsächlich tut er viel mehr. Vor allem während der Brutzeit verbringt der Waller täglich mindestens vier, mitunter bis zu sieben Stunden, vor dem Waller Brutkasten. Dort hat er vor einem winzigen, gut getarnten Guckloch seine Kamera installiert.

Langweilig werde ihm das nie, betont er: „Da oben ist so viel los. Die Tiere sind in ihrem Verhalten alle unterschiedlich wie wir Menschen. Es gibt zum Beispiel Helikopter-Eltern, die ihre Jungen monatelang betüdeln, und andere, bei denen der Nachwuchs schnell auf sich selbst gestellt ist.“

Die Tatsache, dass der Waller Fernsehturm für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, mögen viele Bremer zwar bedauern. Damit sich die Wanderfalken aber auch weiterhin auf dem Turm mitten in der Stadt wohlfühlen, ist es wichtig, dass sie auch ungestört bleiben.

Obwohl es auf manchen Bildern aussieht, als würden sie ihm direkt in die Augen blicken – die Wanderfalken kennen Eppler nicht. Sie haben ihn noch nie gesehen oder gehört. „Das Knirschen eines Schuhes, das Klicken einer Kamera, und sie sind weg, ehe man sich versieht“, sagt er.

Millionen Fotos

Im Laufe der Jahre hat er rund 26.000 Videodateien gesammelt und ungezählte Fotos aufgenommen – „locker Millionen“, schätzt er. Material, an dem sich Forscher und Fachmagazine immer wieder dankend bedienen. Die Schönsten Aufnahmen wählt er für seine jährlichen Fotokalender aus. Seine Webcam überträgt die Liveaufnahmen aufs Handy. So sind auch in Epplers Zuhause die Falken permanent präsent.

Ehefrau Tina teilt die Begeisterung. „Ein Glück“, sagt er. Für die viele Zeit, die er mit der Beobachtung verbringt, und für die beträchtlichen Kosten, die für die technische Ausrüstung und die Fahrten zwischen den Standorten auflaufen, erhielt er nie einen Cent.

Sein Lohn ist die Anerkennung in Fachkreisen, So zum Beispiel der persönliche Brief von Christian Saar, dem es Mitte der 1970er-Jahre erstmals gelang, Wanderfalken zu züchten und auszuwildern und der als deutscher „Falken-Papst“ internationales Renommee erlangte. „Er schrieb mir: Was Sie gesehen und beobachtet haben, hat noch niemand gesehen“, erzählt Eppler.

Glückliches Ende

Das Drama in Walles höchstem Kinderzimmer nahm übrigens ein unerwartet erfreuliches Ende. Die beiden Jungen überlebten, „wie durch ein Wunder“, erzählt Eppler. Ende Mai machten sie ihre ersten Flugversuche, noch bis ungefähr Ende Juli könne man sie am Himmel über Utbremen oder auf der Plattform des Turmes beobachten. Dann werden sie weiterwandern.
Ein besonderes Merkmal könnte irgendwann Aufschluss darüber geben, wohin sie ihre Reise führt. Auf Epplers Initiative hin wurden die Jungvögel im Mai unter der Leitung einer Expertin des Nabu und mit Genehmigung der Umweltbehörde beringt. Sie sind damit auch bei der Vogelwarte Helgoland registriert.

Info

Sven Eppler teilt seine Fotos und natürlich auch die Filmaufnahmen auf seiner Homepage
www.naturfotografie-eppler.de und hält Dia-Vorträge in Schulen, Kirchengemeinden, Senioreneinrichtungen oder anderen Institutionen. Anfragen können an die E-Mail-Adresse svepp@nord-com.net gerichtet werden.

Zur Sache

Die schnellsten Tiere des Planeten
Im Sturzflug auf ihre Beute – kleine und mittelgroße Vögel – können Wanderfalken Geschwindigkeiten von bis zu 390 Stundenkilometern erreichen. Sie gelten damit als die schnellsten bekannten Tiere. In den 1970er-Jahren waren sie fast ausgestorben. Als Ursache wurde die Belastung ihrer Nahrung durch das Pflanzenschutzmittel DDT nachgewiesen. Nur durch aktive Falkenschutzmaßnahmen habe sich der deutsche Bestand inzwischen wieder auf geschätzte 1500 Brutpaare stabilisiert, erklärt Sven Eppler.
Das eigentliche Element von Falco peregrinus, so der wissenschaftliche Name, sind gebirgige Landschaften oder Steilküsten. In der norddeutschen Tiefebene finden die Felsbrüter kaum natürliche Brutplätze.
Im Brutkasten auf dem Utbremer Funkturm zog 1997 das erste wilde Falkenpärchen ein. Seitdem habe sich der Standort als der produktivste Turm der Republik etabliert, so Eppler. Die Höhe des Brutkastens und seine Ausrichtung, die Tatsache, dass er wind- und wettergeschützt sei und in größtmöglicher Distanz zu allem liege, was die sensiblen Vögel stört, mache ihn zur Top-Lage. Die übrigen Bremer Falkenkästen, die Eppler ebenfalls betreut, sind an den Kraftwerken Hafen und Hastedt, an der umgedrehten Kommode, am Fallturm und in Farge.
Am Fallturm waren in diesem März vier Junge geschlüpft. Vor allem in ihren ersten Monaten sind Jungfalken in Städten stark gefährdet. Straßen, Oberleitungen und Glasfassaden hoher Gebäude sind ihre modernen Feinde. Studien sagen: Rund ein Drittel der Jungvögel überlebt die ersten Monate nicht.

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