Hausfriedensbruch, Kindeswohlgefährdung und ein brutaler Mord: Am Himmel über Walle spielten sich in den vergangenen Monaten Dramen ab. In den Hauptrollen: Ein selbstverliebter Hallodri und eine verzweifelte Mutter. Tatort: Der Brutkasten der Wanderfalken auf dem Utbremer Fernsehturm. Von nichts davon hätte irgendwer hier unten die leiseste Ahnung – gäbe es nicht einen Augenzeugen, der die Geschehnisse genau beobachtet und minutiös dokumentiert. Seit nunmehr 20 Jahren hat Sven Eppler das Leben der Bremer Wanderfalken im Blick. In dieser Zeit hat er spektakuläre Aufnahmen gemacht und wertvolle Erkenntnisse für die Erforschung der seltenen Wildvögel gesammelt.

Diese zwei von ehemals drei Küken haben überlebt.
Dabei hatte im Frühjahr alles so gut angefangen, erzählt Eppler. Falke Harlekin und seine Lilly (Terzel und Weib, wie Ornithologen sagen würden), seit gut sieben Jahren verbandelt, hatten wieder für Nachwuchs gesorgt. In den Tagen vom 8. bis zum 15. März landeten nach und nach vier Eier auf dem feinkörnigen Kies des Falkenkastens. Drei Wochen lang kümmerte sich das Paar mit der gewohnten Arbeitsteilung um die Brut: Ein Elternteil hielt die Eier warm, während das jeweils andere sich auf die Jagd machte und für Nahrung sorgte – immer schön abwechselnd, im Rhythmus von maximal zwei Stunden. Doch nach etwa drei Wochen war es mit dem Familienidyll vorbei.
Ein Eindringling
„Plötzlich saß da ein fremder Falke ganz seelenruhig auf der Anwarte“, erzählt Eppler. Von Falkenvater Harlekin keine Spur. Es nützte nichts, dass Falkendame Lilly den Rivalen laut schreiend vertreiben wollte – der Eindringling hatte keinerlei Absicht, sich wieder zu verziehen. Das Perfide, so der 62-Jährige: Er gab nur vor, sich an der Erziehungsarbeit zu beteiligen. Weder bequemte er sich, die Brut während der mütterlichen Abwesenheit zu wärmen, noch versorgte er die Familie mit Futter. „Er saß nur dekorativ herum und putzte sich“, erzählt Eppler. „Ein echt fauler und eitler Gigolo.“

Der neue Revierinhaber ist mehr an Gefiederpflege als an Jungenaufzucht interessiert.
Für Mutter und Nachwuchs war die Vernachlässigung lebensgefährlich. „Ich war mir ziemlich sicher, dass die Küken das nicht überleben“, sagt Eppler. Doch am 15. April erblickten immerhin drei davon das Licht der Stadt. Nur vier Tage später entdeckte er vor dem Eingang des Funkturms ein flauschiges Bündel. Aus hundert Metern Höhe war eines der Jungen vom Turm gestürzt. Ein Tatverdächtiger war schnell ausgemacht: der Gigolo. „Das Küken war noch zu klein, um den Ausgang zu erklimmen“, erklärt Eppler. „Die Mutter würde niemals eines ihrer Jungen aus dem Kasten werfen.“
Kaum Hoffnung
Auch für die übrigen beiden Geschwister bestand kaum Hoffnung, stundenlang ungeschützt im eisigen Ostwind zu überleben. Der „Stiefvater“ zeigte nach wie vor keinerlei Beschützerinstinkt. „Die Mutter musste sich ganz allein um die Jungen kümmern“. Statt die Kleinen mit seinem Gefieder zu wärmen – hudern nennt das der Fachmann – beschäftigte sich der Gigolo weiter nur mit sich selbst. Während der mütterlichen Jagdflüge „zitterten die Jungen bei fünf Grad Kälte und Ostwind, wurden immer schwächer und apathisch“, erzählt Eppler, der heimlich mitzitterte.

Ballieren nennt es der Fachmann, wenn Greifvögel mit den Flügeln schlagen, ohne zu fliegen.
Der gelernte Dreher, der nach einer schweren Erkrankung seinen Beruf aufgeben musste, engagiert sich seit 2004 rein ehrenamtlich für den Wanderfalkenschutz. Zu seiner primären Aufgabe gehört es, die sechs Falkenkästen auf Bremer Stadtgebiet jährlich zu reinigen und zu inspizieren. Doch tatsächlich tut er viel mehr. Vor allem während der Brutzeit verbringt der Waller täglich mindestens vier, mitunter bis zu sieben Stunden, vor dem Waller Brutkasten. Dort hat er vor einem winzigen, gut getarnten Guckloch seine Kamera installiert.
Langweilig werde ihm das nie, betont er: „Da oben ist so viel los. Die Tiere sind in ihrem Verhalten alle unterschiedlich wie wir Menschen. Es gibt zum Beispiel Helikopter-Eltern, die ihre Jungen monatelang betüdeln, und andere, bei denen der Nachwuchs schnell auf sich selbst gestellt ist.“
Die Tatsache, dass der Waller Fernsehturm für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, mögen viele Bremer zwar bedauern. Damit sich die Wanderfalken aber auch weiterhin auf dem Turm mitten in der Stadt wohlfühlen, ist es wichtig, dass sie auch ungestört bleiben.

Sven Eppler kümmert sich auch immer wieder um verletzte Wanderfalken.
Obwohl es auf manchen Bildern aussieht, als würden sie ihm direkt in die Augen blicken – die Wanderfalken kennen Eppler nicht. Sie haben ihn noch nie gesehen oder gehört. „Das Knirschen eines Schuhes, das Klicken einer Kamera, und sie sind weg, ehe man sich versieht“, sagt er.
Millionen Fotos
Im Laufe der Jahre hat er rund 26.000 Videodateien gesammelt und ungezählte Fotos aufgenommen – „locker Millionen“, schätzt er. Material, an dem sich Forscher und Fachmagazine immer wieder dankend bedienen. Die Schönsten Aufnahmen wählt er für seine jährlichen Fotokalender aus. Seine Webcam überträgt die Liveaufnahmen aufs Handy. So sind auch in Epplers Zuhause die Falken permanent präsent.

Ohne Kamera ist Sven Eppler am Fernsehturm nur selten anzutreffen.
Ehefrau Tina teilt die Begeisterung. „Ein Glück“, sagt er. Für die viele Zeit, die er mit der Beobachtung verbringt, und für die beträchtlichen Kosten, die für die technische Ausrüstung und die Fahrten zwischen den Standorten auflaufen, erhielt er nie einen Cent.
Sein Lohn ist die Anerkennung in Fachkreisen, So zum Beispiel der persönliche Brief von Christian Saar, dem es Mitte der 1970er-Jahre erstmals gelang, Wanderfalken zu züchten und auszuwildern und der als deutscher „Falken-Papst“ internationales Renommee erlangte. „Er schrieb mir: Was Sie gesehen und beobachtet haben, hat noch niemand gesehen“, erzählt Eppler.
Glückliches Ende
Das Drama in Walles höchstem Kinderzimmer nahm übrigens ein unerwartet erfreuliches Ende. Die beiden Jungen überlebten, „wie durch ein Wunder“, erzählt Eppler. Ende Mai machten sie ihre ersten Flugversuche, noch bis ungefähr Ende Juli könne man sie am Himmel über Utbremen oder auf der Plattform des Turmes beobachten. Dann werden sie weiterwandern.
Ein besonderes Merkmal könnte irgendwann Aufschluss darüber geben, wohin sie ihre Reise führt. Auf Epplers Initiative hin wurden die Jungvögel im Mai unter der Leitung einer Expertin des Nabu und mit Genehmigung der Umweltbehörde beringt. Sie sind damit auch bei der Vogelwarte Helgoland registriert.