Ohne Straßenplan wäre man verloren. Denn die Zahl der Veranstaltungsorte, an denen es beim Kunsthafen Walle am vergangenen Wochenende Kunst und Kultur zu erleben gab, war mit 57 hoch. In der Galerie „Freiraum Kunst“ gab es eine Übersichtskarte, auf der alle Ateliers, Studios und Werkstätten eingezeichnet waren. Mit ihr konnte sich jeder Besucher seinen individuellen Rundgang zusammenstellen. Zum zweiten Mal präsentierten sich im Rahmen des Kunsthafens Walle zahlreiche Künstler aus dem Stadtteil und von außerhalb. Ein aussagekräftiger Querschnitt durch die Werke der 130 Kunstschaffenden fand sich im „Freiraum Kunst“ in der Helgoländer Straße. Dort hatten alle Künstlerinnen und Künstler, die am Veranstaltungswochenende beteiligt waren, jeweils ein Werk im Format 30 mal 30 Zentimeter ausgestellt.
Alle 57 Standorte zu besichtigen glich einem Marathonlauf durch die Welt der Kunst. Deshalb wählten die meisten Besucher eher Kurzstrecken. Die Vielfalt an Ideen war groß, bei einem weiten Spektrum an Ausdrucksformen in Malerei, Druckgrafik, Fotografie oder Skulptur. Die kreativen Orte reichten im Norden bis in das Kleingartengebiet am Waller Fleet, im Süden bis in die Überseestadt. Einige Ausstellungen fanden in früheren Produktions- und Lagerstätten des Hafens statt, die inzwischen umfunktioniert sind. Beispielsweise das alte Kaba-Werk auf dem ehemaligen Kaffee-Hag-Gelände, die ehemalige Eisfabrik Warnken – oder auch ein alter Bauwagen.
„Der Kunsthafen Walle lief 2019 zum ersten Mal, damals schon waren mehr als 100 Künstler dabei“, sagt Brigitte Fischer-Panzlau von der Initiative Kunsthafen Walle, die mit dieser Aktion die Kulturschaffenden in Walle vernetzen möchte. „Dass sich diesmal noch mehr Künstler präsentieren, war nur durch eine Teamleistung möglich“, sagt Fischer-Panzlau. Mitorganisator Andreas Wick betont. „Es gab keine Jury, die eine Auswahl vorgenommen hat.“
Das breite Spektrum an Kunst, das in Ateliers, Studios und Werkstätten präsentiert wurde, wurde in diesem Jahr durch ein besonders umfangreiches Programm aus Musik, Klanginstallationen, Theater und Lesungen ergänzt. Außerdem bereicherten Karikaturisten wie Til Mette, dessen Zeichnungen regelmäßig im WESER-KURIER erscheinen, Bettina Bexte und Miriam Wurster den Kunsthafen. Für die zweitägige Kunstveranstaltung war auch Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) unter die Karikaturisten beziehungsweise Cartoonisten gegangen. In ihrer Freizeit greift sie immer wieder zum Buntstift und schafft witzige Illustrationen.
Eines ihrer Werke zeigt eine Frau, neben der sich ein hoher Papierberg auf dem Tisch schon bedenklich zur Seite neigt und zu kippen droht: „Wenn sich die Arbeit wie der Schiefe Turm von Pisa stapelt, träumt man leicht von Ferien“, steht als Sprechblase in Anja Stahmanns Cartoon, während im Kopf der Frau ein Bild mit Meer und Palmen entsteht. Humorvolle Seiten der Corona-Zeit schildert Bettina Bexte: Sie zeichnete zum Beispiel einen Patienten, der sich online von seinem Hausarzt behandeln lässt und dafür seinen rechten Fuß auf den Laptop setzt, den der Doktor am Bildschirm begutachtet.
Nur wenige Schritte von der Galerie „Freiraum Kunst“ entfernt, stieß der Besucher in der ehemaligen Speiseeisfabrik in der Zietenstraße auf Kunst im Garten und auf mehreren Ateliers, die von Maggie Luitjens im Jahre 2003 eingerichtet wurden. Sie präsentierte auch eigene Werke, die mit Sand Farbtöne in großer Sensibilität arrangieren und modulieren. Ebenso Bleistiftzeichnungen und Druckgrafiken ihres verstorbenen Lehrers Professor Wolfgang Schmitz, der lange an der Hochschule für Künste in Bremen tätig war.
Auf den großformatigen Fotografien von Andreas Braun, ausgestellt in der Eisfabrik, wird die Farb- und Formenvielfalt einer Lackiererei für Lkw oder einer großen Baustelle in der ägyptischen Wüste festgehalten. Im Garten der Eisfabrik standen die lebensfrohen weiblichen Figuren von Ragna Reusch auf dem Rasen.
Dagegen finden ihre winzigen, aus Zahnstochern geschnitzten Skulpturen in Glasröhrchen Platz: „Für diese mikroskopisch kleinen Werke brauche ich nur einen kleinen Tisch, eine starke Lesebrille und ein Taschenmesser“, sagt Ragna Reusch. Damit die Besucher ihre Feinstarbeit in Form bemalter Menschen und Tiere auch würdigen können, hat die Künstlerin eine stark vergrößernde Lupe bereitgelegt.
In der Immanuel-Kapelle gleich um die Ecke betraten die Besucher einen stimmungsvollen Raum, in dem die Fotografien von Anke Wilkens, Barbara Graemee und Gisela Job hingen. Die drei Frauen hielten sich einige Tage in New York auf und fotografierten mehr als nur Wolkenkratzer: Boxkämpferinnen oder Schachspieler auf der Straße, farbenfrohe und großflächige Werbung an Hauswänden oder Micky Maus als Kuscheltier. Diese Motive zeigen die ungewöhnlichen Seiten der Metropole. „Wir waren erstaunt, wie jede von uns New York mit einem eigenen Blick wahrgenommen hat“, sagt Anke Wilkens.
Wer auf seinem Kunst-Rundgang bis zur Weser vordrang, kam in Schuppen Eins in der Überseestadt in einer Fülle aus Cartoons aus dem Lachen oder Schmunzeln kaum noch heraus. Wer dort den Blick nach draußen auf die Weser warf, konnte ähnliche Ansichten in den Bildern von Isa Fischer finden. Mit schwarzem Stift und vielen Aquarellfarben hat sie den Fluss mit seinen Hafenanlagen farbenfroh festgehalten.