Sie ist zwölf Meter lang, knapp fünfeinhalb Meter hoch, flauschig und blau – und wo Wüna – so ihr Name – auftaucht, da ist garantiert Bewegung. Als Leit- und Symboltier des Vereins Blaue Karawane wirbt das riesige blaue Kamel seit nunmehr 30 Jahren für Toleranz, Selbstbestimmung, Kreativität und Individualität. 1994 wurde es in der Aucoop Bootswerkstatt in Vegesack gebaut. Und das kam so:
Auf Beschluss des Bremer Senats wurde in den 1980er-Jahren die Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg bei Oldenburg aufgelöst. Die Insassinnen und Insassen wollten zurück in ihre Heimatstadt Bremen. Eine klassische Verwahranstalt einfach dicht machen, wie geht so etwas? 1985 reiste eine Bremer Gruppe ins italienische Triest, das in den 1970ern seine Psychiatrie aufgelöst hatte, und zog von dort aus als „Blaue Karawane“ nach Bremen. Blau ist die Farbe der Sehnsucht – in diesem Fall nach einer Welt ohne geschlossene Anstalten. Vier Wochen lang lenkte die etwa 150-köpfige Truppe aus Patienten, Ärzten, Betreuern, Künstlern und Unterstützern mit spektakulären Aktionen den Blick auf die Lebensumstände in den bundesdeutschen Psychiatrien, an denen die damals vorbei kam.
Ein blaues Pferd stand Pate
Als sich Anfang der 1990er-Jahre der Verein „Das blaue Haus“ gründete, um eine zweite Blaue Karawane zum Thema „Grenzüberschreitungen“ von Ost- nach West-Deutschland zu organisieren, erinnerte man sich dort an das riesige blaue Pferd namens Marco Cavallo, das die Patienten, Ärzte und Künstler in Triest gebaut hatten. „Bei der ersten Karawane hatten wir die Bremer Stadtmusikanten dabei. Aber wir wollten was eigenes“, erzählt der Waller Psychiater Klaus Pramann.
Die erste Idee: ein Narrenschiff, wie es im Mittelalter Sebastian Brant entworfen hatte, um der "normalen" Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Die zweite: ein Kamel. „Denn ein Kamel ist genügsam, bringt wertvolle Güter über Grenzen und ermöglicht den Kontakt zwischen Menschen fremder Länder. Wir haben uns dann aber an die langen Beine von Marco Callo erinnert, die technisch eine Herausforderung waren“, so Pramann. Aus diesem Grund habe man sich schließlich für eine Kombination der beiden Ideen entschieden – obenrum Kamel und untenrum Katamaran: Ein Wüsten-Narrenschiff, kurz Wüna.

Beim Stapellauf am 17. April 1994 bei der Aucoop-Bootswerft in Vegesack wurde das Wüsten-Narrenschiff auf den Namen Wüna getauft.
In Klaus Tietze, damals Geschäftsführer der Aucoop-Bootswerkstatt in Vegesack, fand die Gruppe einen tatkräftigen Mitstreiter. „Machen wir!“ sicherte Tietze zu und rief ein Projekt für Langzeitarbeitslose ins Leben, das über Fördermittel der Bundesanstalt für Arbeit und aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert wurde. „Wir haben das mit viel Freude realisieren können und die Leute haben damals auch viel gelernt“, sagt Tietze rückblickend. Die Konstruktion, die seine Leute zusammenzimmerten, besteht aus elf Einzelsegmenten. So kann sie auch von mehreren Personen an Land bewegt oder als Halbkreis angeordnet werden, in dem Platz für Theater, Konzerte, Diskussionen und andere Aktionen ist.
Denkwürdiger Zwischenfall beim Stapellauf
Für die beteiligten Bootsbaumeister – „ganz bodenständige Leute“, wie sich Pramann erinnert – sei das damals zunächst eine irre Geschichte gewesen. „Aber beim Stapellauf war das dann deren Kamel, die fanden es toll!“ Der Stapellauf war für den Waller Psychiater aber noch aus einem anderen Grund besonders denkwürdig: „Das war ein richtig grauer Tag. Aber genau in dem Moment, als dann der Kopf aus der Bootsbau-Halle in Vegesack rauskam, tat sich in den Wolken ein Loch auf und die Sonne schien direkt auf Wüna!“

Auch am Bundeskanzleramt ist Wüna schon vorbeigeschwommen.
Etwa 100 Menschen, darunter die Blaumeier-Theatertruppe und die Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen, die auch bei der ersten Karawane schon mit dabei war und mittlerweile mit den ehemaligen Blankenburgern Wohngemeinschaften eingerichtet hatte, zogen in jenem August 1994 als zweite Blaue Karawane drei Wochen lang von Leipzig aus über Torgau, Wittenberg, Magdeburg, Hannover und Minden nach Bremen, um sich gegen Ausgrenzung, Ignoranz, Vorurteile und Gewalt stark zu machen. Und zwar auf dem Wasserweg: Wüna und ihre Begleitschiffe schwammen während dieser Reise durch die Elbe, den Mittellandkanal und die Weser.
Auch Anne F., die damals im betreuten Wohnen lebte und eine psychische Erkrankung hatte, war mit von der Partie. „Als meine Betreuer mich fragten, ob ich mit will, dachte ich erst, die suchen wohl ‚Vorzeigenarren‘“, erzählt sie. Und dass es ihr damals sehr schlecht gegangen sei. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich das körperlich schaffe.“ Der Wunsch mitzufahren war am Ende aber stärker. „Das Beisammensein mit vielen unterschiedlichen Leuten, zusammen Essen kochen, tanzen – all das hat mir gutgetan. Gleich in Leipzig waren die Leute neugierig und kamen auf uns zu. Die dachten erst, dass wir 'ne Sekte sind oder dass wir Camel-Werbung machen. Unterwegs waren überall Leute, die klatschten und uns zuwinkten. Entgegenkommende Schiffe hupten.“ Einige Mitreisende hätten damals abgebrochen, weil es ihnen zu stressig war, erinnert sich Anne F.: „Aber ich blühte auf, setzte meine Medikamente ab und nehme seitdem keine Tabletten mehr. Immer wenn ich Wüna sehe, dieses verschmitzte Grinsen, dann berührt mich das bis heute.“

1999 traf Wüna in Weimar Goethe und Schiller.
Rückkehr nach Bremen
Am 27. August 1994 kehrte die Karawane nach Bremen zurück, schlug ihr Lager bei Hal över an der Sielwallfähre auf und lud die Bremerinnen und Bremer eine Woche lang zu Theater, Musik und Diskussionen zum Thema Grenzüberschreitung ein. Das imposante blaue Kamel war von nun an immer wieder bei Aktionen der Blauen Karawane dabei, unter anderem hat es mehrfach für das alternative Wohnprojekt Blauhaus geworben, das 2019 am Kommodore-Johnsen-Boulevard fertiggestellt wurde und in dem seitdem auch die Blaue Karawane und Wüna zu Hause sind.
Und auch außerhalb Bremens hat Wüna auf ihren Reisen die Menschen zum Beispiel in Bonn, Mainz, Lüneburg, Weimar und Berlin für die Ideen der Blauen Karawane begeistert. Im Juli 2009 warb sie bei einer Wasserstraßen-Wanderung von Berlin über Brandenburg und Wolfsburg nach Bremen für ein Gemeinwesen, das sozial Schwache und Menschen, die aus dem Rahmen fallen, nicht ins Abseits drängt. Das Motto: „Zum Glück geht es anders“. „Beim Abladen am Spreeufer wäre Wüna fast ins Wasser gefallen“, erinnert sich Michael Peuser, der bei der vierwöchigen Reise mit dabei war. Beeindruckend dann die Rückkehr nach Bremen: „An der Schlachte standen viele Zuschauer und winkten.“ Und wann führt Wüna die nächste große Aktion an? „Natürlich wird es die nächste Karawane geben“, sagt Klaus Pramann. „Jetzt sind wir aber erst mal dabei, im Blauhaus anzukommen und haben noch keine Zeit, das zu planen.“

2009 warb Wüna bei einer Wasserstraßen-Wanderung von Berlin über Brandenburg und Wolfsburg nach Bremen für ein Gemeinwesen, das sozial Schwache und Menschen, die aus dem Rahmen fallen, nicht ins Abseits drängt.