Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Katastrophentourismus "Es kommt auf die Motivation und das Verhalten an"

Schuld oder Erftstadt, besonders betroffen von der Hochwasser-Katastrophe, ziehen Schaulustige an. Ist das vertretbar? Der Tourismusexperte Alexis Papathanassis spricht im Interview über Katastrophentourismus.
21.07.2021, 18:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Silke Hellwig

Herr Papathanassis, in Zusammenhang mit den Schaulustigen, die offenbar in den Hochwasser-Gebieten in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz auftauchen, ist von Katastrophentourismus die Rede. Was versteht die Wissenschaft darunter?

Alexis Papathanassis: In der Wissenschaft spricht man von Dark Tourism, was man vielleicht mit düsterem Tourismus übersetzen kann. Er beinhaltet unterschiedliche Formen von Reisen an Orte, an denen etwas Schlimmes geschehen ist. Dazu gehören Katastrophen wie der Tsunami 2004 nach dem Erdbeben im Indischen Ozean, aber auch Entertainment-Einrichtungen wie das Gruselkabinett Dungeon in London, das die blutige Geschichte Englands schildert, oder die Gedenkstätten Ground Zero in New York sowie in ehemaligen Konzentrationslagern. Dark Tourismus ist wissenschaftlich noch relativ wenig erforscht. Derzeit wird deshalb erarbeitet, welche Formen es gibt und wie man sie voneinander unterscheidet.

Personen, die es momentan in die überfluteten und zerstörten Orte wie Erftstadt oder Schuld zieht, sind das überhaupt Katastrophentouristen oder sind das schlicht Gaffer?

Das lässt sich kaum abgrenzen. Die Frage ist, was sie motiviert. Kommen sie aus Neugier oder um sich mit eigenen Augen ein Bild von der Lage zu machen? Kommen sie, um womöglich zu helfen, wenn Hilfe gebraucht wird? Ich glaube, dass viele Menschen den Drang verspüren, dorthin zu fahren, um zu erfassen und zu verarbeiten, was dort geschehen ist. Das ist ein natürlicher, menschlicher Impuls und nicht von vornherein schlecht. Aber die Frage ist, was aus diesem Impuls erwächst. Inakzeptabel ist, wenn Schaulustige Absperrungen ignorieren, Rettungskräften oder Aufräumarbeiten im Weg stehen oder Fotos für Instagram machen, um sich selbst zu profilieren oder sogar zu profitieren. Es kommt also auf die Motivation und auf das Verhalten an. Es kommt, kurz gesagt, darauf an, ob man dort für die Betroffenen und die Lage ein Plus oder ein Minus ist.

Mal abgesehen vom aktuellen Beispiel in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz - was motiviert Katastrophentouristen?

Dazu gibt es Forschungen und eine sogenannte Threat Simulation Theory - eine Bedrohungssimulationstheorie - die auch für Albträume gilt. Vermutet wird, dass Albträume dazu da sind, sich auf Bedrohungssituationen einzustellen und darauf vorzubereiten. Etwas Ähnliches passiert offenbar bei Schaulustigen oder Menschen, die sich Orte ansehen, an denen Schlimmes passiert ist. Sie setzen sich diesem Anblick aus, um sich besser vorstellen zu können, was passiert ist und sich mental auf gefährliche Situationen einzustellen. Offenbar spielt außerdem die sogenannte Emotional Contagion eine Rolle - eine Art Gefühlsansteckung. Wenn solche Orte in einer Gruppe besucht werden, werden die Gefühle geteilt und gemeinsam verarbeitet. Es kommt zu einem Gruppenerlebnis.

Ist Katastrophentourismus eine Erscheinung des 21. Jahrhunderts?

Der Begriff Dark Tourism stammt aus den 1990er-Jahren, aber das Phänomen ist viel älter. Schon das Zuschauen bei den blutigen Spielen im römischen Kolosseum kann man im Grunde dazu zählen. Auch Bildungsreisen führen schon seit Langem nach Pompeji. Oft sind Besuche von solchen Gedenkstätten Ziele von Tagesausflügen, also Bestandteil von einer Reise, die sich nicht ausschließlich mit dem Grauen beschäftigt.

Hat sich das Phänomen in den vergangenen Jahren verstärkt?

Das ist schwer zu sagen, da mir keine umfassenden offiziellen Statistiken zu diesem Phänomen vorliegen; außerdem ist es immer noch eine Herausforderung für die Forschung, es für statistische Zwecke zu definieren und zu begrenzen. Aber es wird sichtbarer und ist weit verbreitet. Es gibt vermutlich wenige Menschen, die viel reisen und nicht schon einmal einen solchen Ort besucht haben. Das liegt auch daran, dass die Vergangenheit der Menschheit von Leid und Elend, Kriegen und Schlachten geprägt ist. Außerdem leben wir in unsicheren Zeiten - von der Pandemie bis hin zum Klimawandel. Es kann gut sein, dass dadurch der Wunsch geweckt wird, sich besser auf Gefahren einstellen zu wollen, indem man sich selbst ein Bild von möglichen Bedrohungen macht - und nach Khao Lak und Ko Phuket in Thailand oder Fukushima in Japan reist. Der Tsunami hat im Übrigen auch gezeigt, welche Folgen es hat, wenn man sich mit den Schauplätzen von Katastrophen verbunden fühlt.

Inwiefern?

Die Hilfsbereitschaft war überwältigend. Das liegt sicher auch daran, dass viele Menschen schon einmal in Thailand oder Indonesien waren. Sie konnten mit den Bildern, die sie im Fernsehen gesehen haben, etwas anfangen. Sie waren sensibilisiert. Ganz anders verhielt es sich einige Monate später bei dem Erdbeben in Kaschmir, bei dem etwa 80.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Das bewegte die Bevölkerung offenbar weniger - es fehlte eine solche Verbindung.

Katastrophentourismus ist höchst umstritten. Was sagen Sie dazu?

Er ist nicht grundsätzlich verwerflich oder unmoralisch. Es kommt zum einen darauf an, wie sich die Menschen an solchen Orten verhalten, was sie mitnehmen und wer davon profitiert. 

Die Frage ist, ob man von Leid profitieren darf?

Die Frage ist vor allem: Wer profitiert? Ethischer Tourismus muss nachhaltiger Tourismus sein, und das bedeutet unter anderem, dass für den Ort, an den die Menschen reisen, die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen. Man muss sich überlegen, wie man diese Art von Tourismus für den Wiederaufbau von Katastrophengebieten nutzen und managen kann. Außerdem darf man nicht vergessen, dass solche Orte auch dazu sind, Menschen zu bilden oder zu sensibilisieren. Das gilt beispielsweise für Gedenkstätten, die die Gräueltaten des Nationalsozialismus thematisieren und zeigen, wozu Menschen fähig ist.

Gibt es organisierten Katastrophentourismus über einen Tagesausflug hinaus: Die zehn schauerlichsten Orte in Europa für Touristen aus Übersee oder dergleichen?

Konkret habe ich davon noch nichts gehört, aber ganz bestimmt werden solche Pakete geschnürt. Im Prinzip gibt es alles, wonach Nachfrage besteht.

Es gibt auch sogenannten Slum-Tourismus. Ragt dieser Bereich auch in den Katastrophen-Tourismus hinein?

Zumindest konfrontiert man sich mit dem Leid anderer, der Armut der Ärmsten. Aber auch beim sogenannten Poorism - abgeleitet von ‚poor‘ für arm - ist die Frage, wie sich die Menschen verhalten, was sie daraus lernen und wer davon profitiert. Werden die Touristen für die Lage der Bewohner sensibilisiert? Machen sie Fotos? Begegnen sie den Bewohnern mit Respekt? Es kommt auch hier auf das Wie an. Andererseits könnte man argumentieren, dass man, wenn man wirklich helfen will, auch spenden könnte.

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

Zur Person

Alexis Papathanassis

ist seit November 2020 Rektor der Hochschule Bremerhaven und Professor für Touristik und Management für Kreuzfahrttourismus. Seit 2005 lehrt er in Bremerhaven. 

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)