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Ukrainische Schüler Endlich wieder Schule

Die ersten ukrainische Flüchtlingskinder werden an der International School unterrichtet. Helfen könnte schon bald eine Lehrkraft aus ihrem umkämpften Heimatland.
31.03.2022, 17:50 Uhr
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Endlich wieder Schule
Von Frank Hethey

Zur Tanzschule in Charkiw ist Sofia immer gern gegangen. Ob sie es jemals wieder tun wird, wissen ihre Eltern nicht. Eine russische Rakete hat das benachbarte Regierungsgebäude in Schutt und Asche gelegt – die Bilder mit dem riesigen Feuerball gingen um die Welt. Vielleicht hat es auch die Tanzschule getroffen, es gibt bislang keine Gewissheit. Für das neunjährige Mädchen ist das nur schwer zu ertragen. "Die Große hat viel geweint", sagt ihre Großtante Natalia Witte, die schon seit 24 Jahren in Deutschland lebt. Doch nun sei es besser – "jetzt ist sie beschäftigt".

Sofia gehört zu den zwölf ukrainischen Kindern und Jugendlichen, die bislang an der International School of Bremen (ISB) untergekommen sind. Unter den 330 Schülerinnen und Schülern aus aller Welt fallen sie kaum auf. Die Verständigung bereitet niemandem im Kollegium Kopfzerbrechen. "Wenn die Kinder ein bisschen Englisch können, ist es gut", sagt Lehrerin Magdalena Getler. Wenn nicht – auch kein Problem. Von den letzten drei Neuankömmlingen konnten zwei kein Englisch. "Dann gibt es eben Englischstunden", sagt Getler, die selbst aus der Nähe von Warschau stammt. 

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Vor fünf Wochen besuchte Sofia noch die Schule in Charkiw. Doch dann kam der 24. Februar – der Tag, an dem sich alles änderte. Ihr Vater Shmalii Liubomyr wunderte sich in der Nacht über das Feuerwerk. Seine Frau Maria wusste es besser. "Das ist kein Feuerwerk", sagte sie. Noch am gleichen Tag raffte die fünfköpfige Familie ein paar Habseligkeiten zusammen und machte sich im Auto auf den Weg nach Westen. Eine lange Strecke auch für die beiden Kleinen, die vierjährigen Zwillinge Solomija und Sviatoslav. Auf verstopften Straßen ging es über Kiew nach Lwiw, sieben Stunden brauchte die Familie für 70 Kilometer. Das Ziel: die Verwandtschaft in Lilienthal. 

Anfang März hat die ISB die ersten ukrainischen Flüchtlingskinder aufgenommen. Zur Monatsmitte dann auch die drei Töchter von Viktor und Switlana Buzyka aus der Nähe von Kiew: Eva (6 Jahre), Sofia (9) und Vladyslava (14), genannt Lada. Vier Stunden nach den ersten Detonationen saß die Familie im Auto. Lange zögerten die Eltern, ihren Kindern die ganze Wahrheit zu sagen. Erst an der polnischen Grenze erfuhren sie, dass sie so schnell nicht zurückkehren würden. Besonders das mittlere Mädchen litt unter den Ereignissen. "Sofia hat oft ohne erkennbaren Grund geweint", sagt ihre Mutter.

Für die Kinder sei die Situation belastend genug, so der Vater – ohne Schule habe Ablenkung gefehlt. Auch die Eltern wussten in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft kaum, wo ihnen der Kopf stand. "Es gab so viele Fragen, so viele Probleme", sagt Viktor Buzyka, ein IT-Programmierer. Für seine Kinder erhoffte sich der 40-Jährige den Besuch einer öffentlichen Schule. Nicht im Traum hatte er mit der Unterbringung auf einer Privatschule gerechnet. Völlig unerwartet kam für ihn das Angebot der ISB. "Es hieß, wir sollten die Kinder einfach bringen."

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Doch wie muss man sich den Schulalltag vorstellen? Getrennt unterrichtet werden die zwölf neuen Schülerinnen und Schüler nicht. In die Klassen seien sie voll integriert, sagt Schulleiter Jamie Perfect. Die einzige Konzession: Wer jetzt eigentlich in der zehnten Klasse sein sollte, besucht die neunte. Der Grund: Die Zehntklässler legen in Kürze ihre Examen ab, diesen Stress will Perfect den Flüchtlingskindern nicht auch noch zumuten.

Aber wie sollen sie lernen, wenn einige von ihnen die Unterrichtssprache Englisch nur rudimentär oder gar nicht beherrschen? Die Lösung ist ein Tandem-Modell. "Sie nehmen an den Stunden mit gleichaltrigen Begleitern teil", sagt Perfect. "Wo möglich, haben wir Paare gebildet mit anderen ukrainischen oder russischen Schülern, die schon an der Schule sind." Diese Schüler könnten bei Bedarf übersetzen.

Ukrainisch-russische Tandems an der ISB – ist das nicht ein bisschen gewagt? Nein, sagt Perfect, es seien bisher keinerlei Probleme aufgetreten. Alle Kinder und Lehrer inklusive der Russen würden helfen, wo sie könnten. An die Vereinten Nationen fühlt sich die Englischlehrerin Elizabeth Reick erinnert. "Wir sind unsere eigene kleine UN hier", sagt sie. Man konzentriere sich auf die humanitäre Seite, nationale Bekenntnisse seien nicht von Interesse. "Wir stellen nicht allzu viele Fragen."  

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In naher Zukunft könnte eine ukrainische Lehrkraft das Kollegium verstärken. Die ISB verhandelt gerade mit einer Lehrerin, die in der Ukraine an einer Internationalen Schule gearbeitet hat. "Wir hoffen, dass wir sie so schnell wie möglich beschäftigen können", sagt Perfect. Allerdings soll sie nicht für zusätzliche Bildungsangebote in der ukrainischen Sprache sorgen, wie jüngst von Experten der Kultusministerkonferenz angeregt. Es geht vielmehr um Unterstützung beim Englischlernen.

Eine Obergrenze bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlingskinder hat sich die ISB nicht gesetzt. "Wir würden wohl in der Lage sein, ungefähr zwei Schüler pro Klasse aufzunehmen", sagt Perfect. Irgendwelche Sorgen um die Finanzierung des Schulbesuchs müssen sich ihre Eltern vorerst nicht machen. Mindestens bis zum Ende des Schuljahres fallen keine Kosten an, auch nicht für das Essen in der Schulcafeteria. "Wie alle anderen hoffen auch wir, dass die Familien dann in ihr Heimatland zurückkehren können", sagt Perfect. Sollte das nicht möglich sein, werde man zusammen mit den Eltern nach Auswegen suchen.

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