"Das neue Berlin.“ „Europas neuer Hot-Spot.“ „Szene-Metropole.“ „Boom-Town.“ Oder auch: „Hypezig“, diesen Begriff verpasste der Schriftsteller André Herrmann seiner zeitweiligen Heimat Leipzig vor ein paar Jahren, und er war nicht als Kompliment gemeint. Ohne mindestens einen dieser Superlative ist in den vergangenen Jahren keine Geschichte ausgekommen, die vom Wandel der Stadt am Zusammenfluss von Weißer Elster, Pleiße und Parthe erzählt. Und erzählt worden ist die Geschichte inzwischen sehr oft, im „Spiegel“ und im „Stern“, aber nicht nur in Deutschland: Auch die „New York Times“, der Londoner „Guardian“, der „Nouvel Observateur“ aus Paris und die Züricher „NZZ“ haben über die Stadt im Osten geschrieben.
Leipzig zieht. Es ist eine der am schnellsten wachsenden deutschen Großstädte, auch wenn sich die Rasanz zuletzt ein bisschen abgeschwächt hat. Mindestens 10.000 Menschen pro Jahr sind seit 2012 in die größte Stadt in Sachsen gezogen. Erst vergangenes Jahr hat Leipzig Bremen als zehntgrößte Stadt Deutschlands abgelöst. 590.337 Einwohner hat Leipzig laut den Januar-Zahlen des Amts für Statistik und Wahlen, so viele wie noch nie seit der Wende. Im Jahr 2030 werden es, so schätzt man, rund 722.000 sein.
Leipzig hat sein Image als graue Oststadt abgestreift
Wie hat es Leipzig in den vergangenen Jahren geschafft, das Image einer grauen Oststadt abzustreifen? Woher kommt sein Ruf, spannend und interessant zu sein, eben ein „place to be“ – und damit imagetechnisch ziemlich weit von Bremen entfernt?
Man kann sich die Entwicklung am besten wie eine Lawine vorstellen. Etwas gerät in Bewegung, zuerst noch ganz klein. Im Lauf der Zeit wird es immer schneller und größer, es breitet sich aus. Verstärkt durch sich selbst reißt es irgendwann alles mit, auch das, was vielleicht versucht, sich ihm in den Weg zu stellen.
Volker Bremer ist 2007 aus Verden nach Leipzig gekommen. Bei dem Umzug von Nord nach Ost habe er den Leuten aus seinem Umfeld leidgetan, sagt der 56-Jährige. „Keiner konnte sich wirklich etwas unter Leipzig vorstellen. Für die meisten war es eine diffuse Ost-Großstadt.“ Eine Großstadt mit damals 497.791 Einwohnern, in der die Arbeitslosenquote bei rund 18 Prozent lag und mehr als 75.000 Wohnungen leer standen, ganze Straßenzüge voller unrenovierter Altbauten mitten im Zentrum.
Daran, dass sich das inzwischen radikal geändert hat, dass in den ersten Vierteln mit den längst schick renovierten Altbauten die Anfänge von Gentrifizierung in Form von steigenden Mieten sichtbar werden, haben auch Geschäftsführer Bremer und seine Kollegen der Leipzig Tourismus und Marketing Gesellschaft ihren Anteil. Natürlich kam der Aufschwung Leipzigs nicht allein durch Werbung, für ihn mussten viele verschiedene Faktoren und auch ein bisschen Glück zusammenkommen. Aber Leipzig ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich eine Stadt und damit auch ihr Image, unterstützt von der Arbeit der Imageprofis, wandeln können.
„Eine Marketingkampagne alleine kann das Image einer Stadt nicht nachhaltig verändern. Dazu muss man alle Kräfte bündeln", sagt Christoph Burmann, Professor für innovatives Markenmanagement. "Sie kann als eine Art Leitplanke dienen, aber alle anderen müssen auf der Straße fahren: Unternehmer, die Vertreter der Stadt und die Bürger. Im Idealfall tragen alle ihren Teil zur Imageverbesserung bei.“ In Leipzig passierte genau das, es kam etwas ins Rollen. Viel Platz für wenig Miete zieht als erstes junge Menschen an, Studenten, Künstler und Kreative. Die Stadtmarketingexperten guckten genau hin.
„Wir haben als Erstes versucht, Bilder von der Stadt zu zeigen, und dafür als erste Stellschrauben das Marketing und die PR ausgebaut“, sagt Volker Bremer. „Es gab damals keine große Standortkampagne.“ Aber es gab zum Beispiel in München Plakate, die junge Menschen in großen Leipziger Altbauten zeigten. Das Motto: „Lehrjahre sind auch Herrenjahre.“ Die Botschaft: Hallo, Studenten, in Leipzig lebt ihr komfortabler als mancher Manager in eurer Stadt.
Baulärm als prägendes Geräusch
Nach den Studenten kamen die Unternehmer mit Arbeitsplätzen für die Region. Die Arbeitslosenquote liegt im Moment bei 7,4 Prozent. Porsche (2002) und BMW (2005) bauten Werke im Leipziger Nordwesten und -osten. Die DHL setzte 2008 eins ihrer weltweit drei Luftfahrtdrehkreuze an den Flughafen Leipzig/Halle, weil es dort analog zur Kneipenszene in der Stadt keine Sperrstunde für startende und landende Flugzeuge gibt.
Auch der Onlinehändler Amazon ist seit 2006 mit einem Logistikzentrum vertreten. „Es sind jetzt überwiegend strategisch Wägende, von Entwicklungsperspektiven Inspirierte, die sich in Leipzig niederlassen, um ihre Chance zu ergreifen: Nicht zufällig erreichte Leipzig im Juni 2017 den zweiten Platz nach Berlin in einer Städtestudie der Bürgschaftsbank zu Berlin-Brandenburg zu Gewerbegründungen“, schreibt Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) im Wirtschaftsbericht 2017.
Wo viele Menschen hinziehen, brauchen sie Orte zum Wohnen. Wenn man dem Leipzig der vergangenen Jahre ein Geräusch zuordnen müsste, es wäre wohl Baulärm. Überall in der Stadt entstehen neue Wohnungen und Hotels, Altbauten, aber auch Fabriken werden umgebaut. Je rund 3000 Einheiten, diesen Begriff für Wohnraum verwendet das Baudezernat, entstanden 2015 und 2016. Selbst das frühere Grandhotel „Astoria“ mitten im Zentrum, das wegen des feuchten Untergrunds, auf dem es steht, als unrenovierbar galt und jahrzehntelang vor sich hin moderte, soll in den kommenden Monaten saniert werden.

Bei jungen Leuten beliebt: Leipzig, hier ein Straßenflohmarkt.
Dass sich Leipzigs Bild in der Öffentlichkeit verändert hat, liegt für Marketingchef Bremer auch an einer guten Zusammenarbeit mit der Stadt und der Wirtschaftsförderung. „Wichtig ist, dass es unter allen Verantwortlichen einen Konsens gibt. Unser Oberbürgermeister Burkhard Jung hat das Thema Stadtmarketing und Tourismus bei seinem Antritt 2006 zur Chefsache erklärt und immer ein offenes Ohr für das Thema“, sagt er. Ähnlich formuliert es Burmann: „Das Stichwort ist identitätsbasiertes Marketing. Jede Art von gutem Marketing basiert auf einem klaren Selbstbild. Also muss man bei den eigenen Bürgern ansetzen. Man muss mit ihnen zusammen erarbeiten, für was man stehen will, beispielsweise für die Stadt der kurzen Wege und schnellen Entscheidungen. Gutes Stadtmarketing funktioniert am besten von innen heraus, wenn alle gemeinsam an einem Strang ziehen.“
Die PR-Strategen streuten ihre Leipzig-Geschichten. Längst auch über die sozialen Netzwerke: Drei Festangestellte, unterstützt von Praktikanten, erzählen von Leipzig auf Facebook und Co. Inhaltliche Schwerpunkte der Stadtmarketingstrategie sind die Themen Musik und Messe. „Wir haben uns gefragt, wo ist Leipzig Weltklasse? Das ist wichtig für das Storytelling. Da ist zum einen das Thema Musik. Leipzig steht für Johann Sebastian Bach, Clara und Robert Schumann, Richard Wagner, Felix Mendelssohn Bartholdy. Wir haben das weltberühmte Gewandhausorchester und den Thomanerchor“, zählt Bremer auf. „Also haben wir Leipzig als Musikstadt überall beworben, wo es ging, um zu zeigen: Wir sind nicht die graue, arme Oststadt, sondern eine kulturpralle Stadt.“
Die Botschaft kam auch international an, die „New York Times“ druckte im Jahr 2007 eine Reiseempfehlung. Und wie das oft so ist, wenn ein Leitmedium ein Thema zum Trend erklärt, setzt bei den Medienmenschen der Herdentrieb ein. Sie ziehen die Geschichte nach und die wiederum verselbstständigt sich mit der Zeit durch das Dauerecho. Und dann kommen die Touristen, 2017 waren es 3,2 Millionen, eben wegen der Berichte über die hochwertige Musikszene, die Künstler der Neuen Leipziger Schule um Neo Rauch und das Nachtleben. „Es war alles kein Hexenwerk, wir haben Stadtmarketing nicht neu erfunden. Aber es ist uns gelungen, Leipzig als hochinteressante Großstadt zu vermarkten“, sagt Bremer.
Das Tor zur Welt
Was dem Ruf der Stadt grundsätzlich auch hilft: Leipzig mit seiner 850-jährigen Messetradition war immer schon eine weltoffene Stadt. Auch und besonders zu DDR-Zeiten freute man sich dort zwei Mal im Jahr über die Gäste aus dem Westen. Weil es zu wenig Hotelzimmer gab, kamen viele Besucher in Privatwohnungen unter. „Leipzig war das Tor zur Welt in der DDR“, sagt Christian Kynast, Sportchef der Leipziger „Bild“-Zeitung und in der Stadt geboren. „Ich kann mich dran erinnern, dass meine Oma Zimmer an Messegäste vermietet hat. Die kamen dann immer wieder, über Jahre.“
Auch heute profitieren Einzelhandel und Hotels von den rund 40 Messen und
100 Kongressen, zu denen Fachleute wie Ärzte und Wissenschaftler anreisen – und oft als Leipzig-Botschafter wieder abreisen. „Inzwischen kommen etwa 65 Prozent Geschäftsreisende und rund 35 Prozent Privatleute“, sagt Bremer. „Es gibt kein Sommerloch mehr.“
Und dann gibt es noch eine Geschichte, wegen der die internationale (Sport-)Welt nach der gegen London verlorenen Olympia-Bewerbung von 2012 mindestens genauso interessiert, oft auch fasziniert nach Sachsen blickt: Rasenballsport Leipzig und sein Durchmarsch. Nach der Gründung 2009 ging es aus den Niederungen der 4. Liga bis zum Vizemeistertitel der Bundesliga vergangene Saison rasant bergauf. Bei vielen Fans anderer Vereine ist der Klub, hinter dem Red Bull und seine Energie-Brause-Milliarden stehen, höflich formuliert umstritten. „Egal wie man zu diesem Verein steht, er bringt Aufmerksamkeit“, sagt der Sportjournalist Kynast.
Leipzigs Spiele in der Champions League und seit dem Ausscheiden nach der Gruppenphase die in der Europa League werden in Länder auf der ganzen Welt übertragen. Das bringt dann immer auch ein bisschen Aufmerksamkeit für die Stadt.