Ein muslimisches Mädchen, das sich bislang wenig für seine Religion interessiert hat, kommt nach den Ferien plötzlich vollverschleiert in den Unterricht. Ein Junge postet in den sozialen Netzwerken immer häufiger Äußerungen von Pierre Vogel, dem Islamprediger. Ist so ein Verhalten noch normale pubertäre Provokation? Oder ist es als Beginn einer möglichen Radikalisierung zu werten? Lehrer stehen immer häufiger vor diesen Fragen, denn sie sind neben Freunden und Familien diejenigen, die die Jugendlichen am besten kennen.
"Auch aus Fortbildungssicht ist das wichtig", sagt Imke Remmert, Leiterin des Kompetenzzentrums Interkulturalität am Landesinstitut für Schule (LIS). "Lehrer müssen für die Feinheiten sensibilisiert werden, damit sie Verhalten richtig einordnen." An immer mehr Schulen auch in Bremen bilden sich Pädagogen zum Thema "Umgang mit Radikalisierungstendenzen" weiter, auch schon im Studium und während des Referates ist Prävention vor (religiös motiviertem) Extremismus Thema.
Am Wochenende saßen 22 Lehrer verschiedener Schulformen sowie Sozialarbeiter in einem Seminarraum der Konrad-Adenauer-Stiftung und ließen sich von den Referenten Sarah Bunk vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und Islamwissenschaftler Götz Nordbruch erklären, wo Radikalisierung beginnt und welche Strategien am besten dabei helfen, sie zu stoppen.
Grundsätzlich, das betont Nordbruch, ist das Phänomen nicht neu, und grundsätzlich erfolgt Radikalisierung, ob nun islamistisch oder rechtsradikal, nach sehr ähnlichen Mustern. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Wiener Extremismusforscherin Julia Ebner in ihrem neuen Buch "Wut – Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen" (Theiss-Verlag). Nordbruch: "Viele Fragen rund um Radikalisierung waren auch schon in den neunziger Jahren aktuell, zum Beispiel nach den Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte. Allerdings hat man sie damals noch nicht als solche wahrgenommen und anders benannt."
Klassenraum als Gesellschaftsspiegel
Heute sei die Gesellschaft insgesamt vielfältiger, aber auch polarisierter, sagt der Wissenschaftler. Das spiegele sich entsprechend auch in den Klassenzimmern wieder. "Es ist positiv, dass wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben, dass wir heute verschiedene Wertevorstellungen nebeneinander haben", sagt Nordbruch, "und das ist ja auch das Wesen von Demokratie. Sie bedeutet nicht, dass es nur einheitliche Interessen gibt. Demokratie ist Streit, ist Konflikt, sie ist ein Prozess des Aushandelns."
Allerdings gebe es "drei As" als rote Linien, die auch einer toleranten Gesellschaft nicht übertreten werden dürften. Nordbruch: "Handeln ist erforderlich, wenn jemand einen anderen abwertet, eine antipluralistische Gesinnung an den Tag legt und den Anspruch auf die absolute Wahrheit erhebt. Da muss man deutlich machen, dass so etwas nicht okay ist."
Aber wie genau macht man dann das nun als Lehrer oder Sozialarbeiter? Wichtig sei, erklärt Nordbruch, nicht in Alarmismus zu verfallen, sondern das Gespräch mit den Jugendlichen zu suchen. "Man sollte Interesse zeigen für das, was sie interessiert und motiviert. Man sollte sich die Gründe dafür erklären lassen, warum jemand protestiert und auch Anerkennung deutlich machen."
Grundsätzlich nämlich ist es ja durchaus gut, wenn junge Menschen sich einbringen und eine eigene Meinung entwickeln. "Das ist ein guter Anlass für politische Bildungsarbeit", sagt Nordbruch. "Man kann Jugendliche mit pädagogischer Arbeit stärken, bevor sie sich radikalisieren."
Statistiken, wie viele Jugendliche sich in Bremen in den vergangenen Jahren radikalisiert haben, werden nicht erhoben. Sarah Bunk darf sich auf Anweisung ihres Arbeitgebers nicht zur aktuellen Flüchtlingsthematik äußern. Sie berichtet, dass sich seit der Einrichtung der Bamf-Beratungsstelle im Jahr 2012 dort 4100 Anrufer gemeldet hätten, die von möglichen Radikalisierungen Angehöriger oder Freunden berichteten. "Das waren zum Beispiel Eltern, deren Kind in den Irak gereist war.
Daraus hat sich in 1100 Fällen eine weitergehende Beratung entwickelt", sagt Bunk. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle helfen am Telefon, leisten aber auch Aufklärungsarbeit in Schulen zum Thema "Was ist eigentlich der Islamismus, was ist Salafismus?" oder vermitteln Ansprechpartner innerhalb eines bundesweiten Netzwerkes.