Die Pfeife auf dem Schreibtisch liegt bereit, sie ist gestopft und kann Feuer vertragen. Ein Ritual für Karl Günter Mundt, das er pflegt, seit er mit 15 Jahren das erste Mal an Bord ging. „Zuhause war’s mir zu eng, ich wollte was sehen“, sagt der gebürtige Vegesacker. Er hat es bis zum Kapitän für die große Fahrt gebracht, war sogar mal Eigner eines Schiffs. Doch dann saß Mundt plötzlich auf dem Trockenen. Seine „Roseneck“ war im Persischen Golf unterwegs, als das Schiff Feuer fing und ausbrannte. Übrig blieb für Mundt, der bei dem Unglück nicht an Bord war, ein Berg von Schulden.
Solche Geschichten erzählt der alte Mann. Er sitzt in seiner Wohnung auf dem Seefahrtshof in Grohn und schwelgt in Erinnerungen. Mundt ist ein Prövener, so heißen die Bewohner der Einrichtung von Haus Seefahrt. Sie müssen fast alle keine Miete zahlen, nur die Nebenkosten, und haben das vor allem den Spendern bei der Schaffermahlzeit zu verdanken. Das Hochamt der Bremer Kaufleute und Kapitäne, die glanzvolle Festveranstaltung in der Oberen Rathaushalle – sie dient Menschen, die nicht viel auf Tasche haben.
Mundt ist vor zehn Jahren auf den Seefahrtshof gezogen: Haus 2, Erdgeschoss, eine schöne Wohnung. „Was Besserer kann’s gar nicht geben“, sagt der 80-Jährige. Er hat ein Schlafzimmer mit angrenzendem Bad, ein Wohnzimmer mit integrierter Küche und einen großen Balkon, „im Sommer baue ich dort Tomaten an“. 42 Quadratmeter im Ganzen, kein Luxus, aber ungemein gemütlich.
Am späten Vormittag fährt er jeden Tag mit dem Rad zum Sedanplatz in Vegesack, Kaffee trinken, „man trifft sich“. Dann wieder nach Hause, kochen, das macht er selbst. Später ein wenig lesen, am Computer hocken oder spazieren gehen, wie’s gerade kommt. Mundt schreibt auch, es ist ein Buch daraus geworden, seine Lebensgeschichte. Er singt Shantys im Seemannschor Vegesack, einmal in der Woche ist Probe. Und geht gern auch mal einen trinken: Sonntags immer, 14 Uhr, zwei Bier im Fährhaus, ein Kumpel kommt mit.
„Ich wollte nicht irgendwann in der Zeitung stehen, weil etwas passiert ist“
So vieles, eines davon hat er jetzt aufgegeben. „Ich wollte nicht irgendwann in der Zeitung stehen, weil etwas passiert ist“, erklärt Mundt. Er war Kapitän auf der „Franzius“, einem nachgebauten Weserkahn, wie es ihn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab. Chef an Bord zu sein, für alles die Verantwortung zu tragen, wurde ihm schließlich zu viel.
Mundt darf auf dem Seefahrtshof wohnen und muss keine Miete zahlen, weil ihm die Mittel fehlen. Ob’s wirklich so ist, wird jedes Mal penibel geprüft, wenn sich Bewerber für eine der Wohnungen vorstellen. Haus Seefahrt ist eine Einrichtung für bedürftige Seeleute. Ausnahmen gibt es schon, aber nur selten. Wer bessergestellt ist, sich mehr leisten kann, trotzdem aber gerne Prövener sein möchte, kann das mit Glück erreichen, muss aber für die Wohnung bezahlen.
Einer auf dem Seefahrtshof, der das Sagen hat. Klaus Thormählen ist der Verwaltende Kapitän, in seiner Hand liegt die gesamte Organisation. Er kümmert sich um die Anlage in Grohn, die Anfang der 1950er-Jahre entstanden ist und heute unter Denkmalschutz steht. Er plant diverse Versammlungen, auch die Schaffermahlzeit. Er ist kurzum die gute Seele, immer ansprechbar. Viel Arbeit für einen 82-Jährigen, und sie ist ehrenamtlich. „An manchen Tagen komme ich nach Hause und falle so ins Bett“, sagt Thormählen.
Anstrengend ist es besonders jetzt, in dieser Zeit, wenn das große Ereignis näher rückt. Jedes Jahr am zweiten Freitag im Februar schreiten die Herren und neuerdings auch immer mehr Damen vom Schütting zum Rathaus, um dort stundenlang zu schmausen und trinken, Kontakte zu knüpfen und den mal mehr, mal weniger staatstragenden Reden zu lauschen. Thormählen kennt das aus dem Effeff, er sitzt seit 30 Jahren an der reich gedeckten Tafel, vergisst bei der Feier aber nie, wozu sie gut ist: Aushängeschild für Bremen, Börse für Nachrichten und Geschäfte – und eben dafür, den Seefahrtshof zu finanzieren.
Stiftung Arme Seefahrt
Das hellrot verklinkerte Gebäudeensemble in Grohn ist wie ein Hufeisen angeordnet. Am offenen Ende steht das Verwaltungsgebäude mit dem prächtigen Wappensaal. Dort werden die kaufmännischen Vorsteher und Verwaltenden Kapitäne von Haus Seefahrt verewigt. Das älteste Schild stammt von einem Kaufmann namens Gert Wessels und ist datiert von 1586. Die Stiftung, damals Arme Seefahrt genannt, ist 41 Jahre älter. Auch Thormählen hat ein Wappen entworfen und an die Wand genagelt. Er ist seit fünf Jahren im Amt, knapp anderthalb Jahre liegen noch vor ihm.
Thormählen sieht die Prinzipien von Haus Seefahrt, er sieht aber auch die Realität, und nicht immer geht beides überein. Kapitäne, die von der Stiftung als Mitglieder aufgenommen werden, müssen nicht nur ein Patent besitzen, sie müssen es auch ausgefahren haben, also eine entsprechende Zeit auf See gewesen sein. „Solche Nautiker gibt es in Deutschland aber immer weniger, weil die Schiffe ausgeflaggt wurden und ausländische Besatzungen haben“, sagt Thormählen. Er ist dafür, die Bedingung aufzuweichen, konnte sich bislang aber nicht durchsetzen. „Es hatte sich zum Beispiel eine junge Frau beworben, die das Kapitänspatent hat, aber nicht zur See fährt, sondern beim Havariekommando in Cuxhaven arbeitet.“ Thormählen unterstützte die Bewerbung, doch keine Chance, andere Mitglieder verwiesen auf die Satzung und lehnten die Frau ab.
Veränderungen – auf dem Seefahrtshof hat es sie gegeben. Als es schwierig wurde, genügend Bewohner zu finden, die den Auswahlkriterien genügen, beschlossen die Verantwortlichen vor zehn Jahren, neben den Kapitänen, ihren Frauen und den Witwen von Kapitänen auch Nautik-Studenten aufzunehmen. Zurzeit sind es sechs junge Leute, die sich unter das alte Volk mischen. Geholfen wird aber auch noch anderen. Thormählen erzählt von Kriegsflüchtlingen aus Syrien, ausgebildeten Seeleuten, die sich in Deutschland noch einmal qualifizieren müssen, damit ihre Patente anerkannt werden. Ihnen zahlt Haus Seefahrt ein Stipendium.
In die Amtszeit des Verwaltenden Kapitäns könnte ein historisches Ereignis fallen. Es bahnt sich eine Zäsur an, wie es sie in dieser Tiefe und Tragweite in der Geschichte des ältesten Brudermahls der Welt noch nicht gegeben hat. Drei Tage vor der Schaffermahlzeit hält Haus Seefahrt traditionell seine Generalversammlung ab. Dann werden drei kaufmännischen Schaffer gewählt, die zwei Jahre später für das Brudermahl verantwortlich sind. Ein Adelsschlag, mehr geht nicht in Bremen, wenn man Unternehmer ist. Muss nicht sein, könnte aber, dass dieses Mal eine Frau zum Zuge kommt.
Vierter Standort in mehr als 500 Jahren
Der Seefahrtshof in Grohn ist das vierte Domizil von Haus Seefahrt in seiner Geschichte. Die Stiftung zur Unterstützung bedürftiger Seeleute siedelte sich im 16. Jahrhundert zunächst dort an, wo in der Bremer Innenstadt heute die Hutfilterstraße liegt. Hundert Jahre später zog sie auf ein Grundstück in unmittelbarer Nähe. Aus dieser Zeit stammt das Tor, das heute in Grohn am Eingang zum Seefahrtshof steht. Die Inschrift verrät, dass es das erste Mal im Jahr 1665 errichtet wurde.
Gut 200 Jahre später wechselte Haus Seefahrt mitsamt des barocken Tors nach Walle, in die Lützower Straße. Ein Standort, der nicht lange hielt. Die Bomben des 2. Weltkriegs machten alles zunichte, Bilder von damals dokumentieren das. Kein Stein mehr auf dem anderen, mit einer Ausnahme, auch davon gibt es ein Foto: Das alte Tor von Haus Seefahrt hatte standgehalten. Es wurde behutsam abgebaut und zwischengelagert. In den Jahren 1950 und 1951 entstand der Seefahrtshof auf dem Oeversberg in Grohn. Nur wenige Jahre später kam auch das Tor wieder an die Stelle, an die es hingehört, zu Haus Seefahrt.