Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Interview mit Klinikleiter Wie in Bremen mit psychisch kranken Straftätern umgegangen wird

Die Therapie psychisch kranker Straftäter ist die Suche nach dem Kompromiss zwischen Freiheit und Sicherheit, sagt Klinikchef Dominik Dabbert. Bremen handhabt dies anders als andere Bundesländer.
30.01.2025, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Wie in Bremen mit psychisch kranken Straftätern umgegangen wird
Von Ralf Michel

Herr Dabbert, welche Aufgabe hat die forensische Psychiatrie?

Dominik Dabbert: Unser Auftrag lautet, Menschen, die vor dem Hintergrund schwerer psychischer Krankheiten oder Suchterkrankungen Straftaten verübt haben, zu behandeln und ihnen dadurch ein Leben ohne weitere Delikte zu ermöglichen und so natürlich auch die Gesellschaft zu schützen.

Was im Gefängnis nicht möglich wäre?

Man würde diesen Menschen dort nicht gerecht werden. Wenn ich eine schwere Straftat verübe, zum Beispiel jemanden umbringe, um mich zu bereichern, ist das etwas anderes, als wenn ich das tue, weil ich glaube, dass mir die Stimme Gottes es befohlen hat. Deswegen gibt es die Konstruktion der Schuldunfähigkeit, weil krankheitsbedingt die Einsichtsfähigkeit in das Unrecht der Tat fehlt. Oder auch die der eingeschränkten Steuerungsfähigkeit.

Ich werde zum Straftäter, weil ich nicht anders kann?

Wenn ich weiß, ich darf jemanden nicht schlagen, aber ich mache es trotzdem, weil die Krankheit das Kommando übernommen hat, dann habe ich das gewusst, aber ich konnte nicht entsprechend handeln. Und solche Fälle sind dann im Gefängnis nicht gut aufgehoben, sondern hier bei uns. Weil hier eine Therapie möglich ist. Wenn das aber nicht gelingt, sind auch wir irgendwann beim Thema Sicherung.

Also Resozialisierung. Wie im Gefängnis, aber mit den Mitteln der Medizin?

Ja, genau, aber nicht nur das. Ein wichtiger Punkt ist auch eine Berufsausbildung. Wir haben eine eigene Schule, in der man den Hauptschulabschluss machen kann. Und wir haben eine Mitarbeiterin, die sich gezielt um die Vermittlung von Praktika bemüht.

Wie geht man mit psychisch schwer kranken Menschen um?

Ein erster wichtiger Schritt ist es, ein gemeinsames Verständnis der Erkrankung mit ihnen zu erreichen. Das ist manchmal schwierig. Es gibt Patienten, die hören aus ihrer Sicht besondere Stimmen. Sie fühlen sich nicht krank, sondern sehen das zum Teil als Gabe. Und obendrein ist es dann, insbesondere bei Menschen, die eine Schizophrenie haben, ja nicht immer so klar, dass wir die Guten sind und helfen wollen. Wir sind ja für sie ein Teil des Systems, das den Patienten seiner Freiheit beraubt.

Lesen Sie auch

Wenn eine Therapie Wirkung zeigt, sind wir bei Lockerungen. Erst im Dezember sind zwei Patienten geflüchtet.

Im Gesetz für psychisch Kranke (PsychKG) steht, dass Lockerungen gewährt werden sollen, wenn sie dem therapeutischen Ziel nutzen und das Risiko des Missbrauchs oder für Straftaten gering ist. Sagen wir, es gelingt, eine Therapie zu etablieren. Das Wahnerleben des Patienten tritt in den Hintergrund. Ab und zu hört er noch Stimmen, aber die beschimpfen ihn nur noch und geben ihm keine Aufträge mehr. Auf der Station ist er schon seit einem Jahr unauffällig, er ist in die Arbeitstherapie eingebunden und macht das gut. Da machen Lockerungen Sinn.

Welche Formen von Lockerungen gibt es?

Wir haben insgesamt acht Stufen. Die erste umfasst Ausführungen auf dem Klinikgelände unter Begleitung. In den nächsten Stufen wird dann der Freiheitsgrad stufenweise zeitlich und regional erweitert. In höheren Lockerungsstufen dürfen die Patienten sich unbegleitet in der Stadt bewegen oder sogar auswärts übernachten.

Wie kommt es zu Lockerungen?

Der Patient kann die Lockerung jederzeit beantragen. Als Erstes bespricht er das mit seinem Therapeuten. Dann setzt sich das Stationsteam zusammen. Nicht nur der Bezugstherapeut, sondern auch die Pflege, die Sozialtherapeuten. Die geben eine Stellungnahme dazu ab und leiten sie an mich weiter.

Also entscheiden am Ende Sie?

Tatsächlich muss nach PsychKG der Klinikleiter über Lockerungen entscheiden. Das mache ich aber nicht einfach frei Schnauze, sondern in der Regel über sogenannte Lockerungskonferenzen. In denen sitzen Vertreter verschiedener Berufsgruppen, Ärzte, Psychologen, Sozialtherapeuten, Pflegemitarbeiter.

Sind Sie für schnelle Lockerungen?

Es gibt Menschen, bei denen man sehr schnell und andere, bei denen man sehr langsam lockern muss. Für mich hängt es auch sehr vom Delikt ab. Patienten, die zum Beispiel die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern nicht geachtet haben, sind in der Regel Menschen, die eine Persönlichkeitsstörung haben. Die ist schwieriger zu behandeln. Diese Patienten sind mit mir sehr unglücklich, was Lockerungsanträge betrifft. Menschen, die aber eine Erkrankung haben, die gut behandelbar ist und die nicht pädophile Straftaten oder kein Tötungsdelikt begangen haben, bei denen bin ich eher bereit, einer Lockerung zuzustimmen und die Risiken, die damit verbunden sind, einzugehen.

Wo steht Bremen bei Lockerungen im Ländervergleich?

Bei dem entsprechenden Delikt und bei einer gut behandelbaren Krankheit geht es in Bremen tatsächlich schneller, gelockert zu werden. Wir wägen anders ab als Bundesländern wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen, die das restriktiver handhaben. Ein wichtiger Punkt ist aber, wie oft es im Rahmen von Lockerungen zu Straftaten kommt. Und da sehen wir relativ gut aus. Offensichtlich kriegen wir es hin, die gefährlichen Leute vorher auszusortieren und nicht zu lockern.

Schwerverbrecher erhalten also keine Lockerungen?

Bei allen Patienten machen wir uns Gedanken über Lockerungen und wägen Chance und Risiko ab. Und wenn das Risiko hoch ist, dann gibt es keine Lockerung, egal ob jemand schon 30 Jahre hier drin ist. Aber der Begriff „Schwerverbrecher“ ist hier unpassend. Das begangene Verbrechen ist ein Kriterium, das zur Länge des Strafmaßes führt. Für uns zählt in erster Linie der Therapiefortschritt. Menschen, die zu uns kommen, sind ja in aller Regel freigesprochen worden von Schuld, weil sie nicht schuldfähig waren.

Spielt die Straftat denn gar keine Rolle?

Eigentlich nicht. Wenn ein Patient jemand getötet hat, mit Hintergrund eines Wahns, einer psychotischen Symptomatik, noch dazu nach Drogenkonsum. Und dann nimmt er keine Drogen mehr, sondern Medikamente und spricht gut auf die Therapie an, dann ist er eventuell sehr schnell wieder draußen. Wenn er eine gut behandelbare Krankheit hat, gut mitmacht und nach der Therapie kein Rückfallrisiko besteht. Dann war es nämlich die Krankheit und nicht der Mensch, der die Tat begangen hat. Andere haben deutlich leichtere Delikte begangen und sind trotzdem ewig hier drin.

Wenn ein Kind ermordet wird, werde ich das ein Leben lang mit mir rumschleppen.
Dominik Dabbert, Leiter der forensischen Psychiatrie in Bremen

Es bleibt aber immer ein Restrisiko?

Natürlich kann es am Ende schiefgehen. Manche glauben ja, dass wir hier eine Sicherungsverwahrung sind: Rein, absperren, Schlüssel wegwerfen. Das Gericht hat bei unseren Patienten aber anders entschieden: Forensik und nicht Sicherungsverwahrung. Wir müssen immer einen Kompromiss finden zwischen der Sicherheit und der Freiheit.

Trotzdem kann Ihre Entscheidung schlimme Folgen haben. Wie gehen Sie damit um?

Ich kann Menschen nur vor den Kopf gucken, nicht innen rein. Und auch Menschen, bei denen ich hundertprozentig sicher sein kann, dass jetzt alles super ist und nichts droht - weiß ich, ob bei denen ein halbes Jahr später immer noch alles gut ist? Wenn ich irgendjemandem Lockerungen gewähre und es geht ihm gut, aber am Ende ermordet er ein Kind, dann werde ich das lebenslang mit mir rumschleppen.

Wie wappnen Sie sich für so einen Fall?

Ich kann nur so gut wie möglich entscheiden. Ich kann alle zur Verfügung stehenden Informationen integrieren, engmaschig dran sein, das vorgegebene Verfahren einhalten, um vermeidbare Risiken auszuschalten. Es gibt aber unvermeidbare Risiken. Das ist das Restrisiko, das die Gesellschaft trägt, was aber auch ich persönlich trage. Das haben Sie als Arzt aber immer. Bei jeder Entscheidung, die Sie als Arzt treffen, gehen Sie das Risiko ein, dass sie im Nachhinein betrachtet falsch war, und dass deshalb jemand tot ist oder einen schweren Schaden davongetragen hat. Da kann man nur sagen – Augen auf bei der Berufswahl. Wenn man das nicht kann, wird man besser was anderes.

Lassen Sie uns über „Entweichungen“ sprechen. Zwischen 2020 und 2024 gab es davon 101 bei Ihnen. Was versteht man darunter?

Nicht geplante Abgänge. Wir differenzieren zwischen Ausbruch, Flucht und Entweichung. Vorweg: Fast alle der 101 Fälle sind in die Klinik zurückgekehrt. Nur von Zweien wissen wir nicht, wo sie sind. Am häufigsten sind Abgänge bei begleiteten Ausführungen und unbegleiteten Ausgängen. Die beiden Patienten, die im Dezember geflüchtet sind, waren mit ihrer Begleitperson in einem Kiosk und sind dann weggelaufen. Aber auch die wurden schon kurze Zeit später geschnappt.

Was passiert, wenn jemand nicht vom Ausgang zurückkommt?

Wenn Patienten schon relativ weit gelockert sind, dürfen sie sich zum Beispiel frei im Stadtgebiet bewegen, müssen aber nach vier Stunden wieder da sein. Sagen wir, jemand müsste um 18 Uhr zurück sein, ist es aber nicht. Dann bekomme ich um Viertel nach sechs den Anruf von der Station. Was tun? Müssen wir nach ihm fahnden oder geben wir dem noch etwas Zeit? Dann frage ich, was mit ihm in letzter Zeit gewesen ist. Gab es Auffälligkeiten im therapeutischen Verlauf? Steht er kurz vor der Entlassung, sprich, er wäre schön blöd, wenn er jetzt abhaut? So versuche ich, mir ein Bild zu machen, und dann entscheide ich.

Wann wird so ein Fall aktenkundig?

In dem Moment, in dem wir die Sicherheitsbehörden informieren und nach ihm fahnden lassen, sprechen wir von „Entweichung“. Häufig hat das aber ganz banale Gründe. Da schläft dann zum Beispiel einer in der Straßenbahn ein und wird vom Schaffner erst an der Endhaltestelle geweckt. Nach dem wird zwar ab 19 Uhr gefahndet, aber um 20 Uhr steht er von allein vor der Tür.

Und wenn nicht?

Dann informieren wir die Polizei. Dort wird die Fahndung an besonders dafür eingerichtete Dienststellen gegeben. Die bringen die Leute dann auch relativ flott zurück.

Es gab seit 2020 aber auch vier Ausbrüche.

Richtig. Laut Definition ist das jemand, der sich unter Überwindung baulicher Hindernisse entfernt. Klingt hochdramatisch. Aber wir haben hier nicht nur einen hochgesicherten Bereich, sondern auch ein Außenhaus. Das war früher eine normale Station, unter anderem mit ganz normalen Fenstern. Dort behandeln wir auch Menschen, die weit gelockert sind.

Zwischenfrage – haben Sie genug Platz?

Das Haus ist ausgelegt für den Bedarf von vor 14 Jahren. Seitdem hat die Verhängung des Maßregelvollzugs und damit auch unsere Belegung deutlich zugenommen. Wir haben inzwischen eine Warteliste von etwa 15 Patienten, die noch in der JVA sind und auf einen Platz bei uns warten. Aber insgesamt jammern wir noch auf hohem Niveau. Wir haben fast nur Einzelzimmer. In vielen anderen Forensiken haben sie Viererzimmer.

Wie viele Betten gibt es?

155 sind verhandelt, aktuell hatten wir 160 Patienten. Auch deshalb haben wir 16 unserer Patienten, im Außenhaus untergebracht. Manche Patienten im Außenhaus arbeiten schon wieder draußen auf dem ersten Arbeitsmarkt, haben aber noch Therapie. Trotzdem kann es vorkommen, dass sie einen Rückfall haben. Die Gründe dafür werden untersucht, aber sie verlieren erst mal ihre Lockerungen. Bei einem der Ausbrüche hatte der Patient plötzlich für sich entschieden, dass er das alles nicht mehr möchte - und ist durchs Fenster ausgebrochen.

Wir müssen immer einen Kompromiss finden zwischen Sicherheit und Freiheit.
Dominik Dabbert, Leiter der forensischen Psychiatrie in Bremen

Was dann doch irgendwie Sorge bereitet.

Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang: Es entweichen dort nur Patienten, die bereits Lockerungsstufen haben. Die richtig gefährlichen Menschen, und die gibt es hier ohne Frage, die erhalten keine Lockerungen. Um ins Außenhaus zu kommen, muss man Stufe 5 haben. Die bedeutet, dass man unbegleitet in Bremen unterwegs sein darf.

Nehmen Sie insgesamt Veränderungen im Verhalten Ihrer Patienten wahr?

Wir sehen eine ungewohnt hohe Anzahl von Menschen, die mit Drogenproblematik und schizophrener Symptomatik aufgenommen werden. Und wir sehen eine Zunahme von Menschen mit Migrationshintergrund. Die haben es schwer, muss man ganz klar sagen. Sie kommen in eine Gesellschaft, die sie nicht gut verstehen und von der sie sich abgelehnt fühlen.

Wie lange bleiben Patienten bei Ihnen?

Durchschnittlich etwas über sieben Jahre. Manche bleiben aber auch lebenslang hier. Wir haben Patienten, die schon seit Jahrzehnten bei uns sind. Das sind aber sehr spezifische Fälle. Bei vielen geht es sehr viel schneller. Und dann gibt es zunehmend auch Leute mit niedrigerer Deliktschwere.

Die bei Ihnen sozusagen geparkt werden?

Zum Teil haben wir den Eindruck, das Gericht und Verteidiger zu der Einschätzung kommen: Okay, wenn der so weiter macht, macht der irgendwann was richtig Schweres. Also senken wir doch mal die Schwelle für eine vorläufige forensische Aufnahme. Dann ist der mal für ein halbes Jahr drin und anschließend ist die Gefahr deutlich geringer. So übergibt die Gesellschaft teilweise Aufgaben ans uns, die in anderen Hilfesystemen nicht gelöst werden, warum auch immer. Wenn das unser gesellschaftlicher Auftrag ist, erfüllen wir ihn. Dann müssen aber auch die Kapazitäten dafür vorhalten können.

Das Gespräch führte Ralf Michel.

Zur Person

Dominik Dabbert ist 51 Jahre alt und leitet seit zweieinhalb Jahren die forensische Psychiatrie im Klinikum Bremen-Ost. Zuvor war er ein Jahr leitender Oberarzt und hat davor 20 Jahren in der Allgemeinpsychiatrie des Klinikums Ost gearbeitet.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)