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Ehemann einer ALS-Patientin erzählt Wie schwer es ist, einen Angehörigen zu pflegen

Pflegende Angehörige können leicht an ihre Grenzen stoßen - trotz zahlreicher Angebote und Hilfestellungen. Der Ehemann einer ALS-Patientin erzählt von seiner Odyssee im Pflegesystem.
19.03.2018, 17:42 Uhr
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Von Serena Bilanceri

Als seine Frau merkte, dass etwas mit ihren Beinen nicht stimmte, dachte sich Hans Müller (Name geändert) nicht viel dabei. Denn erst kürzlich hatten die Eheleute eine schöne, längere Radtour gemacht. Seine Frau versuchte es mit Physiotherapie. Da es nicht besser wurde, besuchte das Ehepaar immer wieder neue Orthopäden. Doch die 59-Jährige konnte bald nicht mehr gehen. Erst nach einiger Zeit stellte ein Spezialist die schwere Diagnose: atypische Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). ALS ist eine unheilbare, degenerative Erkrankung des Nervensystems.

Über seine Gefühle in jenem Moment will Müller nicht reden. Sieben Jahre ist das her, seine Frau ist erst kürzlich gestorben. Der 68-jährige Rentner möchte auch nicht über die noch rätselhafte Krankheit sprechen. Stattdessen berichtet er von der hohen Belastung pflegender Angehöriger. Seine Erzählung ist ein „J’ accuse“, eine Anklage des deutschen Pflegesystems.

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Müller ist wütend. Während der Krankheit seiner Frau fühlte er sich im Stich gelassen. In einem Pflegeheim wollte er sie nicht unterbringen. „Die Lebensqualität meiner Frau bestand darin, zu bestimmen, wann sie aufsteht und etwas isst. Oder darin, mit unseren Katzen zu spielen“, erzählt er. Im Pflegeheim sei so etwas nicht möglich gewesen. „Sollte ich ihr dieses auch wegnehmen?“ Also beschloss er, sie zu Hause zu betreuen.

Zeitlich konnte er es sich leisten: Er war inzwischen in Rente gegangen. Doch bei der Pflege geriet er an seine Grenzen. Vor allem in den letzten gemeinsamen Jahren, als die Krankheit voranschritt und seine Ehefrau eine Betreuung rund um die Uhr brauchte. Um sie zu pflegen, musste Müller über eine längere Zeit sein soziales Leben aufgeben.

Seine physische und emotionale Kraft ließ damals nach. Eine Pflegekraft und ambulante Dienste sorgten meistens für eine begrenzte Stundenzahl pro Tag für Abhilfe. In der restlichen Zeit musste er sich selbst um die Bedürfnisse seiner Frau kümmern. Die einzige Lösung, um jeden Monat einige Tage lang Pause zu haben, wäre, eine durchgehende Pflege durch private Anbieter in Anspruch zu nehmen.

Achtung bei billigen Angeboten

Finanziell sei dies aber nicht zu schaffen gewesen, sagt er. Für schwere Fälle kämen schnell um die 3000 Euro an Kosten zusammen. Die Krankenkassen zahlen für solche Pflegedienste einen Beitrag, der sich nach Pflegegrad unterscheidet. Für den Grad 5 – wenn die Selbstständigkeit des Patienten am schwersten beeinträchtigt ist – sind es in der Regel bis zu 1995 Euro.

Angebote im Bereich Pflege gibt es viele. Eine einfache Online-Suche reicht aus, um auf die Seiten zahlreicher privater Anbieter zu stoßen. Besonders intensiv wird mit Pflegekräften aus Osteuropa geworben, die teilweise nur die Hälfte im Vergleich zu einer deutschen Fachkraft verlangen. Doch Verbraucherwebseiten und Vergleichsportale warnen vor besonders günstigen Angeboten: Manchmal seien die Kosten für die medizinische Betreuung – wie die Medikamentenverabreichung – in dem Kostenvoranschlag nicht enthalten.

Die Betreuerin sei in solchen Fällen nur eine Hilfskraft und für das Geben von Medikamenten nicht gesetzlich zugelassen. Zudem kann die Betreuung kaum 24 Stunden am Tag wahrgenommen werden. Pfleger haben auch Anspruch auf Urlaub, freie Tage – und Schlaf. Und wer nicht aufpasst, riskiert, in die Illegalität zu geraten. Denn es ist für deutsche Kunden schwierig, zu kontrollieren, ob die selbstständige Fachkraft auch tatsächlich ihre Sozialbeiträge im Herkunftsland zahlt.

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Stefan Görres, Professor für Pflegeforschung der Universität Bremen, mahnt ebenfalls zur Vorsicht: Die Firmen wüssten, dass der Fachkräftemangel in der Pflege in Deutschland groß sei. Vor allem ausländische Arbeitskräfte könnten leicht zu Opfern werden. „Wer eine gute Ausbildung hat, wird sich kaum unter Wert verkaufen“, fügt er hinzu. Das deutsche System sei an sich jedoch nicht schlecht: „Wir haben es gut im Vergleich zu anderen Ländern.

Allerdings ist das System sehr abstrakt und funktional gedacht, und es kommt immer wieder vor, dass es an der Realität scheitert“, sagt er. Zwar gebe es keine genauen Daten, jedoch nähmen Fälle, in denen das System nicht perfekt funktioniere, seinem Eindruck nach zu. Für die Betroffenen sei das natürlich dramatisch. „Es ist auch wichtig, dass die Politik darauf aufmerksam gemacht wird“, findet er. Zumal wegen des steigenden Fachkräftemangels immer mehr Menschen eventuell zu Hause betreut werden müssten.

Mangel an Personal und Zeit

„Ich hatte irgendwann das Bedürfnis, nur wenige Tage lang jeden Monat abzuschalten. Das war aber nicht möglich, ohne meine Frau ins Heim zu bringen“, berichtet Hans Müller. Und selbst bei der Kurzzeitpflege – eine begrenzte Zeit pro Jahr, in der der pflegende Angehörige das Recht auf zusätzliche Zuschüsse für die Unterbringung des Pflegebedürftigen im Heim hat – sei es nicht einfach gewesen, einen Platz zu finden. Ein Heim habe aus Ressourcenmangel abgelehnt. „Das war zumindest seriös“, sagt er. Ein anderes sei für den spezifischen Pflegefall nicht ausreichend ausgestattet gewesen. Das habe sich allerdings erst herausgestellt, als seine Frau schon dort war.

Laut Görres gibt es in Bremen zahlreiche Beratungsstellen bei Pflegekassen, Behörden und Pflegestützpunkten. Allerdings könne es vorkommen, dass sich Schwierigkeiten bei besonderen Ansprüchen oder Krankheiten abzeichneten und eine Versorgungslücke entstehe. Müller sagt, er habe sich an mehrere Vereine und Hilfestellen gewandt. Doch am Ende gab es als einzige Lösung für ihn die illegale Beschäftigung von zwei Pflegekräften: einer Frau aus Polen und, als diese ging, einer Frau aus einem arabischen Land. Zusätzlich habe er eine deutsche Fachkraft auf 450-Euro-Basis engagiert. „Ich bin ihnen extrem dankbar“, sagt er. Was Müller bereut, ist die Illegalität. Dass er seiner Frau diese Art von Betreuung nicht legal ermöglichen konnte.

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„Das Hauptproblem ist für mich, dass die Politik sich auf die Pflegeheime und Pflegedienste konzentriert, nicht auf die Pflege in der Familie“, sagt er. Pflegende Angehörige bekommen in der Regel etwa die Hälfte der Beiträge, die für eine vollstationäre Betreuung oder einen häuslichen Pflegedienst gezahlt werden. „Im Unterschied zu manchen kommerziellen Pflegeanbietern auf dem Markt muss ich jedoch keine acht Prozent Rendite haben“, sagt Müller. Ihm hätte es gereicht, seine Ehefrau legal zu Hause betreuen zu können, ohne dabei an die eigenen Grenzen zu stoßen.

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