Wem eine Realität nicht reicht, der kann hinter einer Tür der South Hall auf dem Campus der Jacobs University neue Realitäten erschließen. Hinter der Klinke wartet Dunkelheit, schummrig aufgehellt durch das pinke Neonlicht eines LED-Streifens. An breite Monitore angrenzend bleibt eine Hälfte des Raumes frei, eingerahmt von Markierungen auf dem Teppichboden. "Es gibt einen digitalen Raum, den Außenstehende nicht betreten sollten", erklärt Nicklas Vorrink, der für den Raum zuständig ist. Kurz darauf tritt Vorrink energisch in das leere Rechteck, setzt sich mit routinierten Griffen eine Virtual-Reality-Brille (VR-Brille) auf und nimmt jeweils einen Controller in jede Hand. Musik ertönt, von außen sieht es aus, als würde Vorrink tanzen, wenn er mit geschmeidigen Bewegungen durch die Luft wischt und mit den Händen ausholt. In der virtuellen Welt des Spieles "Beat Saber" steuert er nun einen Avatar in türkiser Kleidung, der zum Takt des Disneysongs "We don't talk about Bruno" heransausende Blöcke mit Lichtschwertern zerteilt, um möglichst viele Punkte zu erzielen.
Virtual-Reality-Lab gegründet
Vorrink studiert Industrial Engineering und Management an der Jacobs University, im laufenden Semester gründete er ein sogenanntes Virtual-Reality-Lab (VR-Lab) auf dem Campus. "Ich glaube, dass es Menschen hilft, ihre Kreativität anzukurbeln, wenn sie virtuelle Welten spielerisch entdecken können", sagt der 23-Jährige. Studierende der Jacobs University können im VR-Lab vorbeikommen, um sich selber ein Bild davon zu machen, auf welchem Entwicklungsstand sich die VR-Technik aktuell befindet. "Wir werden alle irgendwann auf irgendeine Art mit virtueller Realität in Kontakt kommen", ist Vorrink überzeugt. Was ihn an den digitalen Welten fasziniert, ist der Gedanke, dass die VR-Technik Gesetze der materiellen Wirklichkeit aufheben kann. "In virtuellen Realitäten ist nichts unmöglich", sagt der Student, "Man kann mit visuellen Sachen spielen, man kann mit physikalischen Regeln spielen. Alles, was einem in den Kopf kommt, kann man darstellen." Theoretisch könne man Arbeitstreffen in der Sahara abhalten.
Vorrinks Lab verfügt über eine Ausstattung im Wert von 17.000 Euro – mit vier VR-Brillen, Cleanboxen zum Reinigen der Headsets und Computern. Finanziert wurde es von der Selbstverwaltung der Studierenden, dem sogenannten Undergraduate Student Government. Pandemiebedingt lag bei der Selbstverwaltung eine gewisse Summe auf der hohen Kante. Partys und andere Projekte konnten jahrelang nicht stattfinden, erzählt Vorrink, von übrig gebliebenen Budget profitiere das Lab. "Die Controller verfügen nicht nur über Touch-, sondern auch Drucksensoren", schwärmt der Bachelorstudent von der Ausrüstung. Im VR-Shooter "Half-Life: Alyx" etwa sind die Hände des Spielers oder der Spielerin mitanimiert. "So kann man im Spiel zum Beispiel eine Dose zerdrücken", sagt Vorrink. "Der Controller kann auch nachempfinden, wenn man einen Finger wegnimmt."
Nutzen für verschiedene Branchen
Was in der South Hall spielerisch daherkommt, wenn etwa bei dem Spiel "Richie's Plank Experience" ein Sturz aus Hochhaushöhe nachgestellt wird, könnte in Zukunft für verschiedene Branchen durchaus praktischen Nutzen haben. "Chirurgen können sich anschauen, wie Strukturen im dreidimensionalen Raum aussehen, ohne Körper zu öffnen. Sie können Operationen in Simulationen vorher durchführen und schauen, ob alles klappt", erklärt Vorrink. Auch bei diversen Firmen sehe er großes Potenzial."Homeoffice in VR ist etwas anderes als Homeoffice vor einem einzelnen Bildschirm. Es entsteht ein anderes Gefühl der Zusammenarbeit, wenn man virtuell neben seinen Kollegen Platz nehmen kann".
Vorrink selbst beschäftigt sich für seine Bachelorarbeit mit der Technologie. Für Firmen möchte er ein Handbuch erstellen, in dem er die Funktionsweise von Virtual Reality erklärt. Nach seinem Abschluss im Juni reicht er die Leitung des Virtual-Reality-Lab an andere Studierende weiter. Und auch, wenn der Raum bisher erst seit ein paar Wochen für alle Studierende der Jacobs University offen ist, zeigt sich Vorrink in einem ersten Fazit zufrieden. "Vielen Leuten wird am Anfang schwindelig, wenn sie die Brille aufsetzen. Sie kommen trotzdem immer wieder."