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Arbeitnehmerkammer "Arbeit lohnt sich": Das sagt ein Bremer Experte zum Bürgergeld

In der Debatte ums Bürgergeld kursieren verschiedene Zahlen. Ein Experte der Bremer Arbeitnehmerkammer hat eigene Rechnungen angestellt für die Stadt. Die Unterschiede beim Einkommen seien deutlich.
13.12.2023, 05:00 Uhr
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Von Lisa Schröder

Im nächsten Jahr wird das Bürgergeld erhöht. Seit Wochen wird auch deshalb über die Frage diskutiert: Lohnt sich Arbeiten da noch? Die Debatte wird hitzig geführt. Selbst Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) äußerte sich recht deutlich dazu. Jemand, der wirklich so "bescheuert" sei, wegen des Bürgergeldes zu kündigen, der bekomme es zunächst gar nicht. "Der kriegt erst einmal eine Sperre beim Arbeitslosengeld", sagte der Politiker in der Sendung "Hart aber fair" im November.

Es kursieren verschiedene Zahlen im Raum. Magnus Brosig von der Arbeitnehmerkammer Bremen hat eigene Rechnungen konkret für die Stadt Bremen angestellt. Aus seiner Sicht ist das Ergebnis klar. "Das ist völlig unstrittig. Arbeit lohnt sich auf jeden Fall", sagt der Referent für Sozialversicherungs- und Steuerpolitik. "Es sind wirklich deutliche Differenzen in jedem Monat." Drei Szenarien hat Brosig durchgespielt. "Ich habe die tatsächlichen Bruttokaltmieten von Bürgergeldhaushalten mit entsprechender Familienkonstellation zugrunde gelegt", sagt der Experte zum Vorgehen. So beträgt der Einkommensabstand zwischen einem Bürgergeldempfänger und einem Mindestlohnbeschäftigten (Bruttolohn 1980 Euro) derzeit in Bremen unterm Strich etwa 523 Euro. Der Unterschied vergrößert sich mit Kindern: Eine Familie mit einem Alleinverdiener mit diesem Lohn habe aktuell etwa 858 Euro mehr als jemand mit Bürgergeld in dieser Konstellation, der etwa 2402 Euro bekommt. Was zu beachten ist: In Brosigs Rechnung werden Leistungen berücksichtigt, die Haushalten mit geringem Einkommen zustehen, die aber beantragt werden müssen. Das gelte aber auch für das Bürgergeld. "Das kommt auch nicht von allein in den Briefkasten oder aufs Konto geflogen."

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Wer aus dem Berufsleben aussteige, um stattdessen Bürgergeld zu beziehen, der schneide sich tief ins eigene Fleisch – vor allem auf lange Sicht. Diese Perspektive, kritisiert der Experte, fehle oft in der Debatte: "Es steht wirklich nur im Raum: Wie lohnt sich das im Hier und Heute?" Die Erwerbskarriere dauere aber doch hoffentlich viele Jahre, auf die geschaut werden müsse. Welche Aufstiegschancen und Gehaltssprünge ergeben sich? Was für Erfahrungen sammle ich in der Zeit? Es sei ein harter Schritt, aus einem regulären Berufsleben auszusteigen: "Wie kriege ich da wieder den Fuß in die Tür? Dieses Problem gerät völlig außer Acht." Daneben gehe es auch um die Rentenansprüche, die man sich erarbeite. "Die bekomme ich nicht, wenn ich die ganze Zeit nur Bürgergeld beziehe."

Gibt es denn derzeit einen Trend zur Kündigung wegen des Bürgergelds? Einige Gebäudereinigungsbetriebe berichteten von entsprechenden Fällen. Demnach hätten Beschäftigte mit Verweis aufs Bürgergeld gekündigt. Die Aussagekraft der Verbandsumfrage wird jedoch hinterfragt – unter anderem von Marcel Fratzscher. In einem Artikel der ZEIT ist die Kritik des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zu lesen, einzelne Kündigungen würden missbraucht werden, um Stimmung gegen das Bürgergeld zu machen.

Der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber hat sich die Statistiken vorgenommen – und sieht derzeit keinen Zulauf beim Bürgergeld. "Noch nie sind so wenige Menschen aus Jobs neu in die Arbeitslosigkeit mit Bürgergeld gegangen, wie es im Moment der Fall ist", sagt der Wissenschaftler vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit im Interview mit der ARD. Das Jobcenter Bremen sieht hier aktuell ebenfalls keine Auffälligkeiten. "Es gibt bei uns keine Besonderheiten zu beobachten oder steigende Zugangszahlen", teilt Sprecherin Katrin Demedts mit.

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Aus Sicht des Experten Brosig kommt die "Arbeit-lohnt-sich-nicht-Debatte" nicht ohne Grund jetzt auf. Viele Menschen sorgten sich: Wo soll das alles hinführen? Wie geht es mit der Wirtschaft weiter? Und wo stehe ich am Ende? "Ich glaube, diese Sorgen sind der Nährboden für die Geschichte." Brosig zufolge geht es dabei gar nicht nur ums Geld bei der Frage. Jenseits vom Finanziellen ermögliche Arbeit Teilhabe. Aus seiner Sicht nehmen viele das Bürgergeld falsch wahr – womöglich aufgrund des Namens: "Es ist aber kein bedingungsloses Grundeinkommen." Wenn die Menschen nicht wirklich gute Gründe hätten, warum sie nicht arbeiten gehen könnten, werde das Jobcenter entsprechend tätig werden und gegebenenfalls Sanktionen verhängen. Abstriche bis zu 30 Prozent drohten dann. In der Diskussion gehe es dagegen gar nicht um die Menschen, die unfreiwillig auf dem Arbeitsmarkt Schwierigkeiten hätten, meist aus vielen Gründen zugleich.

Brosig stört auch der Blick auf die Höhe der Leistung. Von einem "üppigem Bürgergeld" könne nicht gesprochen werden. Von den Gesamtbeträgen für eine Familie müssten eben die Wohnkosten bezahlt und die Kinder und der Partner versorgt werden. "Das ist alles fernab von Schlaraffenland", sagt Brosig. "Es ist aus meiner Sicht ein völliges Zerrbild, wenn dort ein Bild von der vermeintlich bequemen Hängematte gezeichnet wird." In mancher Rechnung in der Debatte stimmten auch die Vergleiche nicht. Da werde etwa das Kindergeld beim Berufstätigen nicht berücksichtigt. Für Laien sei es schwer, die Zahlen nachzuvollziehen. Die Rechnungen und Modelle seien "nicht trivial".

Zum Jahreswechsel werden sich die Zahlen verändern. Das Bürgergeld steigt dann etwa bei einer Einzelperson um 61 Euro auf 563 Euro im Monat. Durch diese Anhebung schrumpften die Lücken durchaus, so Brosig, dennoch fielen sie weiter deutlich aus. Aus seiner Sicht müsste die Antwort jetzt sein, dass die Löhne sich verbessern – und nicht Sozialleistungen gekürzt werden.

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