Zu einem richtigen Fernsehabend im Hause Budak gehört ein Becher Eis. Timur Budak geht also los zum Edeka im Alten Postamt am Hauptbahnhof. Der Weg dorthin ist von seiner Wohnung aus nicht weit. Es ist fast schon ein Ritual: Budak stellt sich vor die Kühltruhe und lässt den Blick schweifen. Beim Eis von 94 Icemen bleibt sein Auge hängen. Worauf haben er und seine Frau diesmal Appetit? Schokoladeneis mit Dattelstücken und gerösteten Kakaobohnen? Vielleicht veganes Erdbeer-Granatapfelsorbet mit frischen Granatapfelkernen? Oder doch lieber Vanillecreme mit Kurkuma und gerösteten Cashewkernen? Vermutlich greift Budak zum Vanille-Becher – seinem Lieblingseis. Er geht zur Kasse und bezahlt 4,99 Euro. Nun ist alles vorbereitet für einen schönen Fernsehabend.
Eis ohne Zucker
An dieser Stelle könnte die Geschichte vom Eisliebhaber Timur Budak zu Ende sein. In Wirklichkeit geht die Geschichte aber gerade erst los. Budak ist Jungunternehmer, und das Eis, das er für Fernsehabende in seinem Stammsupermarkt kauft und bezahlt, ist sein Eis. Budak hat vor drei Jahren das Unternehmen Wunderfood gegründet, dessen einzige Marke im Moment 94 Icemen ist. Budak produziert Eis, das 100 Prozent Genuss und null Prozent Zucker verspricht: Keine Farbstoffe, keine Süßstoffe, keine Konservierungsstoffe, stattdessen alles natürlich, gesüßt wird mit Agave.
Dass er sein eigenes Eis im Laden kauft und nicht aus dem Firmenlager abzweigt, ist für ihn Ehrensache. Er findet, dass sein Geschäft ja nichts werden kann, wenn er sich permanent daran bedient. Die 94 Icemen sind schließlich noch dabei, zu wachsen. Das gilt auch für das Gehalt des Chefs. „Im Moment verdiene ich weniger als meine Mitarbeiter“, sagt Budak. Einen Kern von drei Leuten hat er um sich, drei, vier Kräfte holt er bei Bedarf dazu. Er lebe immer noch wie ein Student, sagt Budak, der das bis zu seinem Bachelor-Abschluss in BWL auch war, ehe er sich dazu entschloss, sein Studium zugunsten einer Existenzgründung, nun ja, auf Eis zu legen. Materieller Wohlstand sei ihm im Moment nicht so wichtig, sagt Budak, jetzt will er erst einmal, dass 94 Icemen groß wird.
Timur Budak ist das, was man einen Typen nennt. Der 30-Jährige kann reden ohne Punkt und Komma. Und gute Geschichten erzählt er. Wie etwa die von der Namensfindung. 94 Icemen. Warum 94 Icemen? Budak muss da etwas weiter ausholen. „Ich hatte einen bestimmten Anspruch ans Branding“, sagt er, „cool sollte der Name sein und wirklich etwas aussagen." Nächtelang, so erzählt er, hätten seine Freunde und er zusammengesessen. Als alle Ideen ins Leere liefen, habe er sich gefragt: Wer hat das Eis eigentlich erfunden? Tatsächlich kreisen um diese Frage viele Theorien und Mythen. Interessant findet Budak die Legende, nach der Kaiser Nero von seinem Palast aus zugeschaut haben soll, wie Rom einst brannte. Er soll dabei genüsslich ein Eis verspeist haben. „Mit der Story hätte man arbeiten können“, sagt Budak, „aber sie ist nicht zu beweisen.“
Eis für den Kaiser von China
Also? 94 Icemen heißt 94 Icemen, weil der Kaiser von China einst 94 mutige Männer beschäftigt haben soll, die er regelmäßig losschickte, um in den Bergen nach Eis zu suchen. In dicken Holztruhen transportierten sie Blöcke von Gletschereis vom Gipfel hinab zum Hof, dort verfeinerten sie die kühle Speise mit Früchten und gaben Milch dazu. „Das war das erste Milchspeiseeis der Geschichte“, sagt Timur Budak. Und so wie die historischen 94 Icemen den Kaiser von China verwöhnt haben, wollen die modernen 94 Icemen die Menschen von heute verwöhnen.
Mehr als 25 Zutaten stecken heute in herkömmlichen Eissorten. Kaum ein 500-Gramm-Becher kommt mit weniger als 1500 Kalorien aus, das sind drei Viertel des Tagesbedarfs einer erwachsenen Frau. Bei 94 Icemen kommen höchstens acht Zutaten in den Becher, und 100 Gramm vom veganen Erdbeer-Granatapfelsorbet haben gerade einmal 50 Kalorien. Die ersten 75 000 Becher der Sorten Vanille, Erdbeer und Schokolade zu je 300 Gramm hat Jungunternehmer Budak inzwischen verkauft.
Das Eis von 94 Icemen liegt in den Tiefkühlkostabteilungen von 250 inhabergeführten Geschäften und Edeka-Supermärkten im gesamten norddeutschen Raum. Die Startinvestition in sechsstelliger Höhe ist aufgebraucht, jetzt will das junge Unternehmen den nächsten Schritt machen. Deutschlandweit würde Budak das Eis gern vertreiben. Er sucht jetzt einen großen Discounter, vielleicht findet er auch einen strategischen Partner oder Investor, das wär’s.
Bis jetzt hat Budak noch jede Herausforderung gemeistert, auch wenn es nicht immer leicht war. „Ich lebe meinen Traum“, sagt Budak. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass sich der Traum manchmal wie ein Albtraum angefühlt haben muss. Als die ersten 75 000 georderten Eisbecher Fehldrucke waren und er deshalb die Markteinführung 2018 vom Sommer in den Herbst verschieben musste. Als die Banken sich anfangs mit Krediten zurückgehalten haben und der Vertrieb zunächst viel zu viel Geld verschluckt hat. Als langjährige Branchenkenner den Enthusiasmus des Jungunternehmers bremsen wollten. „Eis ohne Zucker?“, sagt Budak, „das habe er noch nie erlebt, und das ginge auch gar nicht, hat mir mal ein erfahrener Produktionsleiter klipp und klar gesagt.“ Budak hat sich davon nicht entmutigen lassen.
"Silicon Walle"
Hergestellt wird sein Eis heute von der Firma Gelato Classico aus Hilter im Osnabrücker Land. Die ersten Kredite haben ihm schließlich vier Banken aus der Region gewährt. Von erfahrenen Experten hat er sich Tipps zur Gründung geholt. Den Vertrieb hat er inzwischen verschlankt. Und sein Büro teilt er sich in der Überseestadt mit mehreren sogenannten Co-Workern, die vor allem Apps entwickeln. Hier sitzt er an einem Schreibtisch, neben ihm ein kleiner Kühlschrank mit ein paar Bechern Eis darin, vor ihm Rechner, Monitor und ein Telefon, links an der Wand ein Poster: Aufschrift „Silicon Walle“.
So fühlt er sich: Wie ein Pionier, im Aufbruch, immer auf der Suche nach der nächsten Idee. Pläne hat er noch einige: Er möchte 2020 einen Online-Shop an den Start bringen. Und er möchte neue Rezepturen entwickeln, denkt darüber nach, mit der Tonka-Bohne zu experimentieren oder etwas mit Kaki und Zimt zu machen. Zu diesem Zweck holt er zu Hause manchmal die alte Eismaschine hervor, die ihm einst seine Eltern geschenkt haben. Und dann probiert er am Küchentisch aus. Irgendwann, so sein ganz großer Traum, sollen 94 Icemen 94 Eissorten anbieten.
Auf dem Weg dorthin hat er sich bisher keine Pause gegönnt. Urlaub? Seit drei Jahren nicht. Freie Tage? Vielleicht mal zwei oder drei am Stück, wenn's hoch kommt. Diesmal steigt er über Weihnachten aber einfach aus. Es soll mit seiner Frau nach Wien gehen. Die Reise ist der Ersatz für die Flitterwochen, die ausfallen mussten, na klar, wegen 94 Icemen.