Herr Lempe, die Zusatzbeiträge der Krankenkassen sind in die Höhe gegangen wie lange nicht. Müssen Sie bis Jahresende nachträglich anheben oder kommen Sie damit aus?
Michael Lempe: Wir sind zuversichtlich, dass wir mit dem jetzigen Zusatzbeitrag durch das Jahr kommen. Die Kostendynamik hat sich unverändert fortgesetzt, wie auch schon im Vorjahr. Dadurch hat die gesamte gesetzliche Krankenversicherung das Jahr 2024 mit einem hohen Defizit abgeschlossen – insgesamt beläuft sich dieses auf die enorme Summe von 6,6 Milliarden Euro.
Andere Krankenkassen mussten ja bereits im laufenden Jahr erneut erhöhen. Können die nicht rechnen?
Das liegt zum Teil nicht an den einzelnen Entscheidern in den Krankenkassen, sondern am System. In jedem Herbst setzt sich der sogenannte Schätzerkreis zusammen und schätzt die Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitrags des jeweiligen Folgejahres. Wenn der sich verschätzt, kommen die Krankenkassen in sehr kurzes Gras, denn alle Kassen müssen diese Vorgabe in ihre Haushaltspläne übernehmen. Zudem gibt es kaum noch finanzielle Abpufferungsmöglichkeiten, da die Krankenkassen von der Politik veranlasst wurden, ihre Rücklagen weitestgehend aufzulösen.
Das hat ja schon zu den Zeiten begonnen, als wir noch einen Bundesgesundheitsminister namens Jens Spahn hatten.
Ja, er hat die Kassen systematisch entreichert. Wir sagen sogar enteignet, weil die Kassenrücklagen praktisch auf ein Minimum abgeschmolzen werden mussten. Ende letzten Jahres hatten die Krankenkassen nur noch sechs Prozent einer Monatsausgabe als Rücklage. Das bedeutet, dass im Durchschnitt jede Kasse nur noch einen Finanzpuffer für 1,5 Tage verfügbar hat. Damit kann man kaum noch eine Schwankung ausgleichen, geschweige denn unvorhergesehenen Ausgaben begegnen. Eine Monatsausgabe als Puffer zu haben, das wäre schon die Mindestanforderung, weil es durchaus vorkommt, dass sich der Schätzerkreis im Herbst eines Vorjahres verrechnet.
Wenn andere Kassen im laufenden Jahr nochmals erhöhen, dürfen die Mitglieder wechseln – zum Beispiel zu Ihnen als zweitgünstigste Kasse bundesweit. Mit wie vielen Versicherten mehr rechnen Sie denn?
Wir rechnen im laufenden Jahr mit bis zu 60.000 zusätzlichen Versicherten – also Beitragszahlern plus den Familienangehörigen. Damit werden wir in diesem Jahr die Grenze von einer Million Versicherten zum ersten Mal überschreiten.
Inwiefern schauen da andere Kassen nach Bremen und fragen sich, wie die HKK das macht?
Wir freuen uns natürlich sowohl über Lob als auch über Neid, welcher ja bekanntlich die höchste Form der Anerkennung ist. Die Vorstände anderer Krankenkassen begegnen der Wettbewerbssituation aber mit sehr viel Stil. Immerhin werden in diesem Jahr bundesweit fast zwei Millionen Mitglieder ihre Krankenkasse wechseln. Das ist ein neuer Rekord. Sorgen müssen wir uns über die Kassen machen, die pro Jahr zehn Prozent und mehr ihrer Mitglieder verlieren, da alle Krankenkassen füreinander haften. Da ist die Frage, ob wir diese möglichen Schieflagen austarieren können, bei dem dünnen Eis, auf dem wir uns bewegen.
Wie viele Krankenkassen werden da aufgeben in diesem und in den kommenden Jahren?
Das ist schwer einschätzbar. Ich kann mir vorstellen, dass eine neue Fusionswelle bevorsteht, was aber dem Wettbewerb der gesetzlichen Kassen zuträglich ist. Ich halte insgesamt 30 bis 40 Kassen für ausreichend für einen intakten Wettbewerb von Dienstleistungsunternehmen, die Kassen ja inzwischen sind. Momentan sind es noch 94.
Wann wäre es denn für die HKK interessant, eine dieser Krankenkassen zu übernehmen?
Wir können uns jederzeit vorstellen, mit Kassen zu fusionieren. Die Herausforderung liegt allerdings darin, eine betriebswirtschaftlich intakte Krankenkasse zu finden. Denn würde es sich um eine betriebswirtschaftlich schwächere Kasse handeln, würden wir unsere Wettbewerbsposition verschlechtern. Insofern sind nur wenige Fusionskandidaten denkbar.
Wo können Sie Kosten einsparen, vielleicht auch durch den Einsatz von KI?
Das gilt eigentlich für alle Bereiche wie zum Beispiel bei den Leistungsausgaben. Hier prüfen wir die Rechnungen der Krankenhäuser inzwischen mit KI. In allen Bereichen von Massenprozessen, auch zum Beispiel in unserem Inputmanagement, kommt KI zum Einsatz. Bei der Beantwortung von Kunden-Mails ist auch der KI-Einsatz möglich. Klar ist aber auch, dass bei uns immer noch ein kompetenter Mensch auf den von der KI vorgeschlagenen Sachverhalt schaut, bevor etwas entschieden oder verschickt wird. Die HKK hat jetzt schon 30 Prozent niedrigere Verwaltungskosten als eine durchschnittliche gesetzliche Krankenversicherung. Das ist ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil, den wir mit unserem günstigen Zusatzbeitrag direkt an unsere Versicherten weitergeben.
Wo sehen Sie weitere Potenziale?
Hoffnung für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung, weniger für eine Kosteneinsparung, haben wir im ambulanten Sektor bei den niedergelassenen Ärzten. Beispielsweise dadurch, dass man Bagatellerkrankungen besser steuert und die Quartalssystematik bei der Abrechnung mit den Kassen verlässt. Die Ärzte erhalten im Wesentlichen immer noch eine Quartalspauschale. Darin spiegelt sich das alte System der Krankenscheine wider, ohne dass dies medizinische Gründe hätte. Aber wenn chronisch Kranke mit ihren Medikamenten gut eingestellt sind, würde es reichen, wenn sie nur einmal im Jahr zum Arzt gehen.
Ein Schritt weg vom "Das haben wir immer schon so gemacht".
Es ist durchaus möglich, den Patienten Dauerrezepte mitzugeben, die ein oder zwei Jahre gelten. Der Arzt würde dann eine Jahrespauschale erhalten. Damit wird dann auch die Zahl der Arztkontakte abnehmen. Doch darauf verzichten die Ärzte im Moment, weil sie eben ihr Quartalshonorar bekommen. Man darf nicht vergessen, dass 20 Prozent der Arztkontakte nur für die Ausstellung von Folgerezepten zustande kommen. Diese Vereinfachung wäre bei gut eingestellten chronisch Kranken möglich und würde die Arztpraxen sinnvoll entlasten, ohne dass es Nachteile hätte.
Jetzt springe ich zur Bundespolitik. Wir haben nun wieder eine eher branchenfremde Bundesgesundheitsministerin. Ist das gut oder schlecht?
Das kann durchaus ein Vorteil sein. Ihr Vorgänger Karl Lauterbach war als Wissenschaftler bestens mit den Besonderheiten und der Historie des Gesundheitswesens vertraut. Nina Warken hingegen hat als Rechtsanwältin und Politikerin bis zu ihrer Berufung zur Gesundheitsministerin kaum Berührungspunkte mit dem Gesundheitswesen gehabt. Man kann aber schon feststellen, dass sie bisher glückliche Personalentscheidungen getroffen hat, was den Unterbau ihres Ministeriums angeht. Sie steht allerdings sehr unter Druck. Bei ihrem wichtigsten Vorhaben, der Krankenhausreform, besteht die Tendenz, dass diese sich verzögert und dass sich strukturell nur wenig an den zum Teil barocken Krankenhausstrukturen in Deutschland ändert. Das ist natürlich auch dem Einfluss der Bundesländer geschuldet.
Hier in Bremen vor Ort will die Gesundheit Nord Arztstellen abbauen. Wie sehen Sie diesen Schritt?
Die Krankenhäuser müssen sich nach den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten richten, insofern respektiere ich den Konsolidierungskurs der Geno. Auch die Transformation, die mit der Verlagerung des Krankenhauses Links der Weser an das Klinikum Bremen-Mitte einhergeht, ist nachvollziehbar.
Herr Lempe, der Bundeshaushalt ist nun beschlossen. Was bedeutet das für die HKK?
Eine klare Niederlage von Nina Warken gegenüber Finanzminister Klingbeil. Die klamme gesetzliche Krankenversicherung wird durch viel zu geringe Darlehen gestützt, die das Problem nur in die Zukunft verschieben, schließlich müssen sie zurückgezahlt werden. Als Therapie für die finanziell angeschlagene gesetzliche Krankenversicherung taugt das ähnlich viel wie ein Pflaster für einen Beinbruch. Der Erhöhungsbedarf beim Zusatzbeitrag bleibt also großenteils erhalten.