In der Stahlindustrie herrscht Aufbruchstimmung: Beinahe 300 Jahre nach der Erfindung des Hochofens soll Schluss sein mit Schmutz und Dreck beim Eisenschmelzen. Der sogenannte grüne Stahl der Zukunft wird sauber und CO2-frei sein, so der Plan. Hergestellt wird er mithilfe von Wasserstoff aus Wind- und Sonnenenergie statt mit Koks. Doch nun könnten der Ukraine-Krieg und die explodierenden Energiepreise den Fahrplan durcheinanderbringen.
Wie will die deutsche Stahlindustrie "grün" werden?
In den vergangenen Monaten hatten sich die deutschen Stahlhersteller gegenseitig überboten mit ihren Investitionsplänen in eine grüne Zukunft: Thyssen-Krupp, Salzgitter, Arcelor-Mittal – sie alle planen in den nächsten Jahren den Bau neuer Anlagen, die die alten Hochöfen ersetzen sollen. "Direktreduktion" (DR) lautet das Zauberwort: Statt mit Kohlenstoff soll das Erz in den neuen Aggregaten mit Wasserstoff reagieren, um zu Eisen zu werden. So entweicht am Ende kein CO2 aus dem Ofen, das die Stahlindustrie heute zu einem der größten Klimasünder Deutschlands macht.
Was haben diese Pläne mit der Energiekrise zu tun?
Die Sache hat einen Haken: In den kommenden Jahren wird es bei Weitem nicht genug grünen Wasserstoff für die Stahlindustrie geben. Für die Übergangszeit wollen die Ingenieure die neuen DR-Anlagen deshalb mit Erdgas betreiben. Und ausgerechnet diese Zwischenlösung droht nun unerschwinglich teuer zu werden. Denn der Krieg in der Ukraine und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland haben die Erdgaspreise in schwindelerregende Höhen getrieben.
Wozu brauchen Hüttenwerke Erdgas?
Schon jetzt ächzt die Industrie unter den Spitzenpreisen – ein Ausfall der Gaslieferungen aus Russland würde dazu führen, dass Anlagen stillgelegt werden müssten, warnte die Wirtschaftsvereinigung Stahl vor ein paar Tagen: Ohne Erdgas aus Russland wäre eine Stahlproduktion zurzeit nicht möglich. "Erdgas kommt an vielen Stellen in einem Hüttenwerk zum Einsatz", erklärt Klaus Schmidtke, Sprecher der Wirtschaftsvereinigung Stahl: Zum Beispiel in den Öfen des Walzwerks, in denen der Stahl vorglüht. Auch in manche Hochöfen wird Erdgas eingeblasen, um den Koksverbrauch zu senken. 2,1 Milliarden Kubikmeter Erdgas werden auf diese Weise jährlich in den deutschen Hütten verfeuert, gut fünf Prozent des Gesamtverbrauchs der Industrie. Und dieser Anteil soll in den kommenden Jahren wachsen, wenn die ersten Direktreduktionsanlagen in Betrieb gehen.
Was plant Arcelor-Mittal in Bremen?
Der Stahlkonzern Arcelor-Mittal will in seiner Bremer Hütte bis 2025 die erste DR-Anlage errichten. Sie soll den kleineren Hochofen 3 ersetzen. Die Zeit drängt, denn der Ofen wurde zuletzt 2008 runderneuert – die nächste, millionenteure "Neuzustellung" wäre demnächst fällig, wenn der Ofen in Betrieb bleiben soll. Ganz in der Nähe bauen die Energieversorger SWB und EWE bis 2023 eine erste Produktionsanlage für "grünen" Wasserstoff. Doch deren Kapazität wird bei Weitem nicht ausreichen, also setzt Arcelor-Mittal für die Übergangszeit auf Erdgas. Eine zweite DR-Anlage soll bis Mitte der 2030er-Jahre den größeren Hochofen 2 ersetzen.
Sind die Investitionspläne in Gefahr?
"Wenn die aktuelle Situation länger anhält oder sich noch verschärft, gefährdet dies unsere Transformationspläne für die Herstellung von 'grünem' Stahl", räumt Marion Müller-Achterberg ein, Sprecherin von Arcelor-Mittal Bremen. Bis ausreichend "grüner" Wasserstoff vorhanden sei, benötige man Erdgas. Weitere Einzelheiten zu ihren Plänen und möglichen Änderungen nennt die Hüttenleitung nicht. In Hamburg betreibt Arcelor-Mittal bereits eine DR-Anlage mit Erdgas. Wegen der Preisexplosion zu Beginn des Ukraine-Krieges musste die Produktion gedrosselt werden. In einer Pressemitteilung hieß es vor wenigen Tagen, die Transformation der Produktion für CO2-freien Stahl bleibe "das zentrale Zukunftsthema bei Arcelor Mittal".
Wie schätzt die niedersächsische Salzgitter AG die Lage ein?
Auch der zweitgrößte deutsche Stahlhersteller will die Produktion bis 2033 komplett auf CO2-armen Stahl umstellen. Bereits Ende 2025 soll der erste grüne Stahl im Werk gewalzt werden – zu Blech, aus dem dann bei VW in Wolfsburg das E-Automodell Trinity montiert wird. Für den Übergang allerdings setzt auch die Salzgitter AG auf Erdgas, das unter anderem aus Russland kommen soll, räumte Vorstandschef Gunnar Groebler vor ein paar Tagen anlässlich der Bilanzpressekonferenz ein. Er erwarte, dass sich die Lieferströme bis zum Start des Projekts sortiert haben. Die Salzgitter AG halte daran fest, die Hochöfen in den kommenden Jahren abzuschalten.
Droht wegen der aktuellen Turbulenzen Kurzarbeit auf den Hütten?
Thyssen-Krupp bereitet sich für April darauf vor und hat eine entsprechende Vereinbarung mit dem Betriebsrat getroffen. Bei der Salzgitter AG sei keine Kurzarbeit geplant, heißt es. Und Arcelor-Mittal Bremen teilte auf Anfrage mit: "Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, ob es mittelfristig zu Einschränkungen kommen wird."