Wer deutscher Staatsbürger werden will, muss sich vorher mindestens zweimal über die Bahn beschweren. Dieser Spruch geht bei Twitter umher. Er hat einen wahren Kern: Nichts eint Deutschland so sehr wie der Ärger über verspätete, ausgefallene und verstopfte Züge. In den Bahnhöfen stehen die Menschen kopfschüttelnd nebeneinander, den Blick auf Anzeigetafeln gerichtet, die das neuerliche Versagen weiß auf blau dokumentieren. Wie viele Freundschaften sind zwischen Fahrgästen entstanden, die gemeinsam den Anschlusszug verpasst haben? In den sozialen Netzwerken teilen Pendler, Gelegenheitsfahrer und hochrangige Politiker ihre Bahn-Erfahrungen. Von seinen selbst erlebten Desastern traut man sich gar nicht mehr zu berichten – zu beliebig, zu oft erzählt. Dabei weiß man natürlich, dass die negativen Erlebnisse eher im Gedächtnis bleiben. Noch uninteressanter als die tausendste Schilderung einer Irrfahrt ist nur der Reisende, der gar nichts erlebt hat.
Leider hat die Deutsche Bahn den subjektiven Eindrücken auch objektiv wenig entgegenzusetzen. Die Mehrheitsmeinung stimmt, das Gefühl trügt nicht: Es wird schlimmer. Lediglich sechs von zehn Fernverkehrszügen kommen ohne größere Verspätungen an. Zu Jahresbeginn hatte die Bahn noch eine Pünktlichkeitsquote von 80 Prozent als Ziel ausgegeben. Auch im Ausland ist vom Mythos der zuverlässigen deutschen Eisenbahn nicht mehr viel übrig geblieben. Immer öfter zeigt sich, dass die Deutsche Bahn zum Hindernis für das europäische Zugnetz wird.
Ein Beispiel: Die Schweiz streicht dem SWR zufolge eine Direktverbindung aus Deutschland nach Chur, weil rund 60 Prozent aller ICE zu spät kommen. Die Schweizer Bundesbahn will die Tourismusregion in der Ostschweiz künftig mit eigenen Zügen anfahren. Ein echtes Armutszeugnis sind die Ergebnisse eines Konzeptpapiers, entworfen vom Bündnis „Bahn für Alle“. Untersucht wurde die „internationale Kompatibilität“ der Bahnsysteme. Unter 23 europäischen Ländern landet Deutschland auf dem drittletzten Platz.
Überraschend sind diese Erkenntnisse nicht: Wie soll Deutschland auf den europäischen Zugverkehr Rücksicht nehmen, wenn es schon im eigenen Netz an allen Ecken und Enden hapert? „So, wie es ist, kann es nicht bleiben“, sagte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) jüngst. Und nun? Mehr Geld soll fließen, das Schienennetz soll modernisiert, der Takt verdichtet werden. Viele Solls sind das, und vor allem soll es schnell gehen.
Die Wahrheit ist aber, dass es nicht schnell gehen wird. Die von Wissing angekündigte „Erste Hilfe für die Schiene“ könnte etwas Druck aus dem überlasteten System nehmen, wird aber keine jahrzehntelange Misswirtschaft und politische Fehlentscheidungen ausgleichen können. Bahninfrastruktur auszubauen, dauert lange – selbst dann, wenn der Ausbau mit aller Macht vorangetrieben würde. Kurzum: Der Ärger über die Deutsche Bahn wird das Land auch in den nächsten Jahren einen.
Für die Deutsche Bahn wiederum darf das kein Freifahrschein sein, die negativen Erwartungen ihrer Kunden zu erfüllen. Wenn das Unternehmen die Fahrgäste schon nicht pünktlich ans Ziel bringt, muss es sein Versagen besser moderieren. Der psychologische Aspekt wird oft vergessen: Ärger und Frustration entstehen häufig nicht wegen einer halben Stunde Verspätung, sondern wegen der Begleitumstände. Anzeigen an Bahnsteigen stimmen nicht, Zugbegleiter geben falsche Informationen, die App zeigt im Fünf-Minuten-Takt neue Gründe für die Verspätung an – kein Wunder, dass sich Fahrgäste ausgeliefert fühlen.
Wer mit dem Auto unterwegs ist, verliert eventuell durch Staus und Baustellen Zeit, hat sein Vorankommen aber ansonsten weitgehend in der eigenen Hand. Um bei diesem Vergleich zu bleiben: Die Bahn sollte für ihre Kunden der routinierte Fahrer sein – reaktionsschnell, streckenkundig und kommunikativ. In der Realität fühlt es sich aber so an, als säße man mit einem Fahranfänger im Auto – immer in Erwartung der nächsten bösen Überraschung.