Wolfang Hirn: Ganz klar nach Shenzhen. Die Stadt hat gegenüber dem Silicon Valley einen großen Vorteil: Ideen können dort unglaublich schnell umgesetzt werden. In Shenzhen und der Region gibt es etliche Fabriken, die einem schnell einen Prototyp oder eine Miniserie bauen.
Was ist Ihnen nach Ihrem ersten Besuch in Shenzhen in Erinnerung geblieben?Zum ersten Mal war ich Anfang der 90er-Jahre da. Da war Shenzhen noch die Werkbank der Welt mit etlichen Hochhäusern, in denen Fabriken untergebracht waren. Hier wurde alles produziert, was im Westen gebraucht wurde – von Spielzeugen bis hin zu Textilien und Sportartikeln.
Mittlerweile ist Shenzhen der Standort für Zukunftsthemen wie 5G, Elektromobilität und Digitalisierung. Ist das die logische Entwicklung?In Deutschland denken immer noch viele Menschen, dass Chinesen nur abkupfern können. Diese Phase gab es tatsächlich, sie ist aber seit vielen Jahren vorbei. China ist in vielen Bereichen sehr innovativ – Deutschland könnte davon lernen.
In Europa hat man den Eindruck, Peking und Schanghai seien die wichtigsten Städte in China. Sehen Sie das anders?Shenzhen war nie richtig im Fokus. Das ist symptomatisch. Für mich hat die Stadt genauso viel Bedeutung wie Peking oder Schanghai. Während Peking als Hauptstadt eher durch Verwaltung und Staatsunternehmen geprägt ist und es in Schanghai viele ausländische Unternehmen gibt, ist Shenzhen die Stadt, in der chinesische Privatunternehmen dominieren.

Autor Wolfgang Hirn
Die Stadt ist vor allem für junge Chinesen attraktiv, das Durchschnittsalter der Einwohner liegt bei 30 Jahren. Früher gingen die Menschen in die USA, um ihre Träume zu verwirklichen, heute ziehen sie nach Shenzhen. Das Ökosystem für Gründer ist sehr gut, die Lebensqualität sehr hoch. Es gibt keine grünere Stadt in China.
Wie ist Shenzhen zu dem geworden, was es heute ist?Vor vier Jahrzehnten wurde die Stadt zu einer der ersten Sonderwirtschaftszonen in China erklärt. Das hat ihr wirtschaftlich und politisch viele Freiheiten verschafft. Das zieht viele Leute an – damals wie heute. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Shenzhen als liberal zu bezeichnen, wäre nicht richtig. Die Regeln sind dort allerdings weniger streng als im Rest Chinas.
Shenzhen ist Stadt der riesigen Konzerne, vor allem Huawei dürfte als Handyhersteller vielen Menschen in Deutschland ein Begriff sein. Wie viel Politik steckt in diesen Firmen?Das ist die große Frage. Privates Unternehmertum in China ist nicht das gleiche wie in Deutschland. Die Firmen müssen sich in einem vorgegebenen, politischen Rahmen bewegen. Das heißt aber nicht, dass Peking die Unternehmenspolitik von Huawei und anderen Konzernen bestimmt.
Donald Trump hat bemerkt, dass China in vielen Bereichen die USA überholt hat. Bei der 5G-Technologie wird das ganz offensichtlich. Hier gehören Huawei und ZTE zu den führenden Unternehmen. Dem haben die USA nichts entgegenzusetzen. Deswegen versucht Trump, Huawei weltweit kleinzuhalten.
Wie viel Jahre ist Shenzhen Europa technologisch voraus?Das sind mindestens zwei Jahre. Wobei wir mit unserem System längst nicht alles nachmachen können. Nehmen Sie die Gesichtserkennung: In Europa gibt es Diskussionen, ob man das überhaupt darf oder soll. In China stellen sich solche Fragen kaum. Die Menschen sind dort eher bereit, neue Technologien auszuprobieren und den Nutzen zu sehen.
In Shenzhen werden Verkehrssünder von Drohnen verfolgt, der Ticketkauf in der U-Bahn funktioniert per Gesichtserkennung. Der Schritt zur totalen Überwachung scheint da nicht mehr weit.Das ist ein fließender Übergang, das stimmt. Aus Gesprächen mit Menschen aus Shenzhen weiß ich aber, dass viele einen Nutzen darin sehen. Etwa wenn Kriminelle aus einer Menschenmasse per Gesichtserkennung herausgefiltert werden können.
Waren diese Entwicklungen nur möglich, weil China ein anders politisches System hat?Auf jeden Fall. In so einem autoritären Staat kann man Dinge einfach durchsetzen. In Shenzhen hat die Stadtregierung angeordnet, dass in wenigen Jahren alle Taxis und Busse nur noch elektrisch fahren dürfen. Gleichzeitig stellt sie die Ladeinfrastruktur bereit. Das geht, weil ihr der Elektrizitätskonzern gehört und sie befehlen kann, dass er innerhalb kürzester Zeit Hunderte Ladepunkte baut. Bei uns wäre so ein Vorgehen unmöglich.
In Ihrem Buch beschreiben Sie hauptsächlich die positiven Seiten. Sehen Sie in diesem System wirklich keine Verlierer?Die großen Verlierer sind die Wanderarbeiter, die vorher in den Fabriken gearbeitet haben. Sie wurden gnadenlos rausgedrängt. Entweder sind sie mit ihren Fabriken weitergezogen oder zu ihren Familien in die ärmeren Provinzen zurückgekehrt. Sie könnten sich Shenzhen nicht mehr leisten. Die Immobilienpreise sind fast so hoch wie in Hongkong, einem der teuersten Orte der Welt. Viele junge Leute können sich nur erlauben, in der Stadt zu wohnen, weil ihre Miete subventioniert wird.
Shenzhen ist durch das Virus nicht unmittelbar betroffen, die Stadt liegt 1000 Kilometer südlich von Wuhan. Die Unternehmen spüren natürlich, dass die Nachfrage weltweit nachlässt und die Märkte daniederliegen.
Gibt es etwas, das eine Stadt wie Bremen von Shenzhen lernen kann?Ein ganz wichtiger Punkt ist für mich die Verkehrs- und Infrastrukturpolitik. In Hamburg wurde bereits eine Studie über die E-Mobilität in Shenzhen gemacht. Natürlich kann ein Bremer Senat nicht so vorgehen wie die Stadtregierung von Shenzhen. Trotzdem könnte man schauen, welche Elemente der Verkehrspolitik sich übernehmen ließen, wenn man mehr E-Mobilität in Bremen haben möchte.
Das Gespräch führte Stefan Lakeband.Wolfgang Hirn
ist Journalist und Autor. Seit 1986 reist er regelmäßig nach China und hat mehrere Bücher über das Land geschrieben. In seinem aktuellen Werk widmet er sich der Stadt Shenzhen.
Blick in die Zukunft
Shenzhen ist eine Stadt der Superlative und hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte aus einer Ansammlung von Fischerdörfern zu einer Metropole mit zwölf Millionen Einwohnern und einer Smart City entwickelt. Ob Elektromobilität, Gentechnik oder Künstliche Intelligenz – bei den wichtigen Zukunftstechnologien werden hier die Trends gesetzt, schreibt Wolfgang Hirn in seinem Buch. Auch viele westliche Konzerne wie Airbus, Apple, Daimler oder Lufthansa haben dort Forschungszentren aufgebaut. Vergangenen Sommer reiste eine Delegation der IHK Nord in die südchinesische Stadt, dabei waren Bremer Unternehmer. Einer der Teilnehmer bezeichnete Shenzhen anschließend als „bemerkenswertes Hightech-Labor“. Hier sei vieles bereits realisiert, was in Deutschland erst Ideen seien.
Wolfgang Hirn: Shenzhen. Die Weltwirtschaft von morgen. Campus, Frankfurt. 286 Seiten, 25€.