Einer aus der Behörde bezeichnet den Entwurf als Gift. Besser man bleibt weit weg davon, denn Risiken und Nebenwirkungen sind nicht nur möglich, sie sind garantiert. Das Gift war lange im Schrank, ein Jahr schon, doch jetzt hat es sich doch noch verbreitet. Der Name: „Hochhausleitfaden Bremen – Grundlagen für die Planung und Beurteilung von Hochhausprojekten.“ Angemischt hat das Gift ein Professor aus Kassel. Bestellt wurde es von der Senatsbaudirekorin.
Iris Reuther wollte sich offenkundig für Diskussionen wappnen, die unweigerlich aufflammen, wenn in Bremen mal wieder ein Hochhaus geplant wird. Das war beim Wesertower so, am Eingang der Überseestadt. Der Tower, 82 Meter hoch, ist gebaut worden. Das war so bei den Libeskind-Türmen. Einer davon sollte auf dem Sparkassengelände am Brill an der 100-Meter-Marke kratzen. Nichts draus geworden, Pläne beerdigt. Und das ist aktuell so beim Projekt im Bremer Ostertor, einem mit rund 40 Metern vergleichsweise niedrigen Gebäude.
"Ich erlebe, dass sowohl gegenüber der angestrebten Dichte, aber vor allem auch gegenüber der Gebäudehöhe oft Skepsis besteht“, hat Reuther in einem Interview gesagt. Die Ambitionen der Immobilienwirtschaft seien hier oftmals nicht einfach mit den Vorstellungen der Stadtgesellschaft in Einklang zu bringen. Und das unter solchen, nicht eben widrigen Umständen: „Im Grunde genommen ist Bremen die am wenigsten dicht bebaute Großstadt mit über 500 000 Einwohnern in Deutschland“, so die Senatsbaudirektorin.
„Bremen ist keine Hochhausstadt“ – so beginnt der Text im Leitfaden. Trotzdem gebe es mehr als 100 hohe Häuser, und Bremen wachse. „Das geht einher mit Innenentwicklung, Nachverdichtung und der steigenden Nachfrage nach neuen Hochhäusern als Bestandteil von großen städtebaulichen Projekten.“ Die Verfasser sprechen von einer Renaissance dieses Bautyps. Er biete die Möglichkeit, unterbewertete Orte und Zentren hervorzuheben und die Stadtsilhouette insbesondere mit Bezug zur Weser fortzuschreiben.

Eine Karte mit einem Überblick der möglichen Hochhausstandorte für Bremen.
Das ist die Basis der Gedanken, die sich der Architekturprofessor Stefan Rettich zusammen mit seinem Team gemacht hat. Rettich lehrt Städtebau an der Universität Kassel. Vorher war er fünf Jahre Professor für Theorie und Entwerfen an der Hochschule Bremen. Er kennt die Stadt, ihre hohen Häuser und die Gebiete, in denen solche Bauten noch möglich wären. Darüber offen nachzudenken, Potenziale auszuloten, möglicherweise sogar konkrete Standorte zu nennen – das ist das Gift, damit möchte niemand in Berührung kommen, auch Reuthers Ressort nicht: „Wir orientieren uns nicht an Leitfäden, sondern werden jedes Bauvorhaben individuell prüfen“, distanziert sich die Behörde.
Doch weil der Schrank nun offen ist, kann auch hineingeschaut werden. Das Erste, was drin liegt, ist nicht toxisch, sondern im Gegenteil für all jene eine Beruhigung, denen die Bremer Altstadt besonders am Herzen liegt: „St. Petri, Unser Lieben Frauen und St. Martini bilden im Verbund die schützenswerte Altstadtsilhouette Bremens – ihre Ensemblewirkung darf durch Neubauten nicht beeinträchtigt werden“, heißt es im Hochhausleitfaden. Ein Ausschlusskriterium für die Libeskind-Türme, eigentlich aber auch für das hohe Haus von Kühne+Nagel, mitten in der Stadt und direkt an der Weser, das jetzt fertig geworden ist.
„Weser, Weser, Weser!“ So überschreiben die Autoren ihren ersten Schwerpunkt zu möglichen Hochhaus-Standorten in Bremen. „Verändert sich zum Beispiel die traditionelle industrielle Nutzung auf der Neustädter Seite, bietet dies enorme Entwicklungschancen für den Stadtteil und sein Gesicht zum Wasser.“ Lauter Anknüpfungspunkte für höhere Häuser und großvolumige Gebäude, heißt es im Text. Eine quasi doppelte Stadt-Silhouette. „Auch am Hemelinger Hafen und im ehemaligen Werften- und Industriegürtel in Bremen-Nord bestehen Potenziale mit naturräumlichen Bezug.“
Ins Auge gefasst haben die Planer auch Flächen entlang der Bahnstrecke Hamburg-Hannover. Bremen zeige den Reisenden hier mit Fallturm, Fernsehturm und den Hochhäusern der Bahnhofsvorstadt seine großstädtische Seite. „Diese Silhouette kann im weiteren Umfeld des Hauptbahnhofs sowie an den geplanten Haltestellen an der Universität und in Hemelingen ergänzt werden.“ Ein Projekt in unmittelbarer Bahnhofsnähe, mit dem bald begonnen wird: das Hochhaus in Verbindung mit dem neuen Fernbusterminal.
Weitere Möglichkeiten sehen Professor Rettich und sein Team an der Verbindung zwischen Alt- und Neustadt: „Insbesondere der Bürgermeister-Smidt-Straße und der Langemarckstraße fehlt es in Teilbereichen an Struktur und Prägnanz. Akzente an besonderen Knotenpunkten können sich unterstützend auf die Orientierung und Gliederung der Straßen auswirken.“ Als Beispiel wird im Leitfaden der Bereich genannt, wo Weser und Kleine Weser zusammentreffen.
Schließlich sind es auch noch die Areale an Universität und Flughafen, denen solche „Stadtmarken“ gegönnt werden sollten, um sie als Innovationshochpunkte sofort erkennbar zu machen. Für die Überseestadt, mit Wesertower, Landmarktower und anderen hohen Gebäuden bereits gut bestückt, erkennen die Planer noch am Hansator als Eingangsportal für den Ortsteil von Walle und auf der Überseeinsel, dem ehemaligen Kellogg-Gelände, Potenzial für Hochhäuser.
Das Maß aller Dinge ist auch im neuen Leitfaden der Dom mit seinen 98 Metern. Darüber geht nichts, darf nichts gehen, sagen die Autoren. Überall dort, wo kein besonderes Potenzial für Hochhäuser erkannt wird, sollte bei 45 Metern Schluss sein: „Das ist der Bremer Pegel.“ Und natürlich legt der Architekt Rettich auch großen Wert auf die Gestalt der Gebäude und des Freiraums drumherum. Garantieren soll das unter anderem ein qualifizierendes Verfahren mit mindestens drei Gutachten.
Über die Nutzung haben sich Rettich und seine Mitarbeiter ebenfalls Gedanken gemacht: „Erstrebenswert ist eine Mischung.“ Wohnen, Kultur, Sport, Gewerbe. Wird das Hochhaus ausschließlich mit Wohnungen bestückt, sollten sie mindestens zu einem Viertel sozial gefördert sein. „Unbenommen davon sollte eine besondere, öffentliche, dem Quartier dienende oder stadtteilübergreifende Ankernutzung vorliegen, wie auch eine besondere Nutzung von Dach und Penthouse als Terrasse, Skybar oder Ort intensiver Begrünung.“
Grundstücke, auf denen ein Hochhaus errichtet werden darf, steigen wegen der stärkeren Auslastung im Wert, und zwar deutlich. „Wem steht dieser Mehrwert zu?“, fragt Rettich. Zu einem Teil der Öffentlichkeit, lautet seine Antwort. Das Hochhaus als Trutzburg der Reichen und Schönen scheidet für ihn aus.
Zur Sache
Die zehn höchsten Bauwerke
1. Schornstein des Heizkraftwerks
250 Meter
2. Fernsehturm
236 Meter
3. Fallturm
146 Meter
4. Hochofen 2 des Stahlwerks
107 Meter
5. St.-Petri-Dom
98 Meter
6. Kirche Unser Lieben Frauen
84,2 Meter
7. Wesertower
82 Meter
8. Almata-Hochhaus Walle
80 Meter
9. Landmarktower
67 Meter
10. Aalto-Hochhaus
65 Meter