Auf dem Seefahrtshof in Grohn leben Seeleute – klingt logisch. Dass die Bewohner tatsächlich noch zur See fahren, ist allerdings eher ungewöhnlich. Die Stiftung Haus Seefahrt kümmert sich seit dem 16. Jahrhundert um die Fürsorge alter Kapitäne sowie deren Ehefrauen und Witwen – laut Eigenbeschreibung ist sie der "älteste noch bestehende Sozialfonds in Europa". Ihre Unterstützung hat die Stiftung vor einigen Jahren auf Nautik-Studenten ausgeweitet. Eine dritte Gruppe ist vor zehn Monaten hinzugekommen: Seit April 2022 wohnen auf dem 20.000 Quadratmeter großen Stiftungsgelände vier ukrainische Familien. Die Männer sind Seeleute, die von Grohn aus zu ihren Fahrten aufbrechen. "Deshalb schwankt die Zahl unserer Bewohner aktuell zwischen 43 und 47", sagt Andreas Mai, Verwaltender Kapitän des Haus Seefahrt.
Seeleute kommen viel herum, die Besatzungen der Frachtschiffe setzen sich oft aus verschiedenen Nationalitäten zusammen. In den vergangenen Jahrzehnten, erklärt Mai, habe die Zahl der Besatzungsmitglieder aus dem östlichen Europa zugenommen. Kapitäne und Ingenieure kämen oft aus Deutschland. "Daraus ergeben sich Bekanntschaften. Volodymyr ruft seinen Freund Heinrich an und erzählt ihm, dass er nach Deutschland kommen möchte", nennt Mai ein Beispiel. Im Frühjahr 2022 seien auf dem Seefahrtshof einige Wohnungen frei gewesen – und die Frage aufgekommen, ob man nicht Ukrainer unterbringen könne. "Die Stiftung ist laut Satzung mildtätig gegenüber Seeleuten, also müssen wir uns auf diesen Personenkreis beschränken", sagt Mai.
Trotzdem mangelte es ihm zufolge nicht an Nachfrage. Vielen Interessenten habe man absagen müssen – sowohl die Zahl der verfügbaren Wohnungen als auch deren Größe sei schließlich begrenzt. Die Zwei- bis Drei-Zimmerwohnungen sind 40 bis 60 Quadratmeter groß. Sie werden nun von Familien mit ein oder zwei Kindern bewohnt. Eine Familie habe eine 13-jährige Tochter, die andere eine Achtjährige. Angefragt hätten auch Großfamilien mit Oma und Hund, berichtet Mai. Dafür reichten die Kapazitäten aber nicht aus.
Auf dem Seefahrtshof leben nun ehemalige, aktive und angehende Seeleute sowie deren Angehörige zusammen. Neben Ukrainern und Deutschen sind auch andere Nationalitäten vertreten – einer der Studenten hat einen syrischen, ein anderer einen nigerianischen Hintergrund. "Die Seefahrt ist das verbindende Element", sagt Mai. Ein Stück weit sei der Seefahrtshof ein Mehrgenerationenprojekt, ein "Quartier des altersbezogenen Wohnens" – dem aber ein bisschen die mittlere Generation fehle. Viele Bewohner seien älter, 70-plus und mehr. Dazu die Studenten, "aber dazwischen haben wir nichts", sagt Mai und lacht. 32 Wohnungen sind ihm zufolge belegt.
Untereinander helfe man sich, was gerade für diejenigen gut sei, die mit zunehmendem Alter Fähigkeiten und vielleicht auch Freunde verloren haben. Mai stellt aber auch klar: "Wir sind kein Altenheim. Wenn jemand eine Pflegekraft kommen lässt, ist das in Ordnung. Wenn man aber nicht mehr aus dem Bett aufstehen kann, ist der Seefahrtshof nicht der richtige Ort." Die gegenseitige Unterstützung sei in den vergangenen Jahren deutlich geworden. Zur Corona-Hochphase seien die älteren Bewohner vorsichtig gewesen, berichtet Mai. Die Studenten hätten sie kontaktiert und für sie eingekauft. "Ich habe noch nie jemanden bitten müssen, anderen zu helfen", sagt der Kapitän.
Zuletzt habe man auch die gemeinsamen Veranstaltungen wiederbeleben können: den Herren- und Damenstammtisch, Spargel- und Grünkohlessen, ein Sommerfest. Letzteres habe ein Schaffer gesponsert, berichtet Mai. Haus Seefahrt und die Schaffermahlzeit sind untrennbar verbunden – auch finanziell. Die Stiftung finanziert den Seefahrtshof zu einem großen Teil mit Spenden, die bei der Schaffermahlzeit gesammelt werden. Der Ausfall der Traditionsveranstaltung habe zu Einnahmeverlusten geführt. Zum Glück, sagt Mai, hätten viele Mitglieder auf Spendenaufrufe reagiert. Auf dem Seefahrtshof können also weiter Seeleute wohnen – egal, ob sie noch zur See fahren, oder nicht.