Die jungen Menschen zwei Etagen über dem Lokal haben die besten Plätze. Während unter ihnen die Gäste eng an eng unter Sonnenschirmen sitzen, Pizza und Burger, Wein und Bier bestellen, haben es sich die jungen Leute oben auf den Fensterbänken bequem gemacht. Sie halten Drinks in den Händen, im Hintergrund haucht Sade den 80er-Jahre-Hit „Smooth Operator“ aus den geöffneten Fenstern ins Freie.
So lässt es sich aushalten an diesem warmen Sonntagabend am Marktplatz in Maastricht. Unschätzbar im Vorteil ist, wer hier in der guten Stube der Stadt jemanden kennt, der gleich neben dem historischen Rathaus wohnt. Wohnen mitten im Zentrum einer Stadt – was in Deutschland immer mehr Kommunen gerne ermöglichen würden, ist in Maastricht längst geschehen.
Am nächsten Morgen: Der WESER-KURIER trifft sich mit Hans Hoorn. Er ist der ehemalige stellvertretende Direktor des Stadtentwicklungsamtes und soll erklären, wie das in Maastricht funktioniert hat: Wohnen dort, wo eigentlich und ursprünglich alles auf Shopping und Sightseeing, auf Essen und Trinken ausgerichtet war. „Die Kurzformel?“, fragt Hoorn, „Sie brauchen eine selbstbewusste Stadtplanung.“ Männer und Frauen wie ihn, könnte man sagen.
Hoorn, 77, hat seinen eigenen Kopf. Fast fünf Stunden Zeit wird er sich nehmen, um seinem Gast zu Fuß die Stadt Maastricht zu erschließen. Bremen, sagt er, kenne er zwar nicht besonders gut, aber als er hört, dass die rot-grün-rote Bremer Regierung in die Koalitionsvereinbarung geschrieben hat, Wohnen in der Innenstadt fördern zu wollen, sagt er: „Glückwunsch. Eine gute Entscheidung.“
Wenig später steht Hoorn vor C&A in der Groote Staat mitten in der Fußgängerzone. Auf den unteren Etagen verkauft das Unternehmen Kleidung, „und dort oben“, sagt Hoorn und zeigt auf die beiden oberen Geschosse, „dort oben sind Wohnungen.“ Und wie erreicht man die? Außer der großen Schaufensterfront und dem Kaufhauseingang ist keine Haustür zu entdecken. „Kommen Sie mal mit“, sagt Hoorn und biegt in eine Seitenstraße ab.
Nach wenigen Metern bleibt er vor einem Nebengebäude stehen. An der Eingangstür zählt er die Klingelschilder, zwölf Stück sind es. „Von hier aus“, sagt er dann, „von hier aus haben wir die Wohnungen erschlossen.“ Die Bewohner steigen unten in einen Aufzug, fahren hoch auf eine Terrasse und können von dort in ihre Wohnungen gelangen.

Zum Bremer Ansatz, Wohnen in der Innenstadt zu fördern, sagt Stadtentwickler Hans Hoorn: „Glückwunsch. Eine gute Entscheidung.“
Unten an der Haustür klebt ein Sticker. „Wonen boven Winkels“ steht darauf. „Wohnen über Geschäften“, heißt das auf Deutsch, und dahinter steckt eine Stiftung, die sich in Maastricht Ende der 1980er-Jahre gegründet hat, um Wohnflächen oberhalb von Geschäftsräumen zu erschließen. Die Stadt hat mitgemacht, die Universität, eine Baugenossenschaft und eine Zeit lang auch eine Bank. „Jeder hat eine Million Euro gegeben“, sagt Hoorn.
„Wonen boven Winkels“ hat zunächst potenziellen Wohnraum aufgespürt. Im nächsten Schritt habe man gezielt Gespräche mit den Eigentümern geführt. „Machen Sie mit?, haben wir gefragt“, sagt Hoorn. Das Angebot, das „Wonen boven Winkels“ machte: Die Stiftung richtete alles her, der Eigentümer verpflichtete sich im Gegenzug, Mieter aufzunehmen. Wer das nicht wollte, bekam ein Kaufangebot: Die Stiftung nahm dem Eigentümer die Wohnung ab.
Baurechtlich und bautechnisch sei die Umgestaltung von Geschäfts- und Büroflächen in Wohnraum mitunter eine ziemliche Herausforderung gewesen, sagt Hoorn. „Man muss auch etwas kreativ sein.“ Wie beim Zugang zu den Wohnungen über C&A zum Beispiel. In Bremen hat sich die Regierungskoalition diese Kreativität quasi ins Programm geschrieben. Im Koalitionsvertrag steht: „Erforderlichenfalls werden wir von Standards abweichen, wenn anders kein Wohnen zu realisieren ist. Wir werden zügig etwaige Probleme und offene Fragen beim Innenstadtwohnen lösen, etwa bei der Stellplatzregelung, den Zuwegungen und dem Brandschutz.“
In Maastricht seien weit über 300, vielleicht sogar 500 Wohneinheiten dank „Wonen boven Winkels“ entstanden, schätzt Hoorn. „Inzwischen sind diese Kapazitäten aber erschlossen.“ Was Maastricht jedoch nicht daran hindert, weiterhin auf Wohnen in der Innenstadt zu setzen, nur auf andere Weise jetzt.
Die Grundidee stammt ebenfalls aus den 1980er-Jahren. „Als wir angefangen haben, die Stadt zu entwickeln, haben wir eine lange Liste mit 35 Gebieten gemacht, die wir als schwach identifiziert haben.“ Schwach waren diejenigen Gebiete, in denen besonders viele Gebäude leer standen, Wohnungen fehlten genau wie eine gewisse Aufenthaltsqualität. „Aus diesen schwachen Gebieten haben wir nach und nach starke Gebiete gemacht“, sagt Hoorn. Dafür habe man zuallererst den Politikern den Gedanken austreiben müssen, dass die Innenstadt einzig zum Geld verdienen gemacht sei. „Nein“, sagt Hoorn, „sie ist auch zum Wohnen gedacht. Menschen wollen in der Innenstadt leben.“
Von einem schwachen zu einem starken Gebiet wird gerade das sogenannte Sphinxkwartir entwickelt. Auf dem riesigen ehemaligen Fabrikgelände der Sphinx-Keramikwerke wurden früher Waschbecken, Toiletten, Fliesen, Teller, Töpfe und Tassen produziert. Auf alten Fotos in einem langen Durchgang kann man sehen, wie hier einst Schornsteine in den Himmel ragten, und wie sehr irgendwann der Zahn der Zeit an den Gebäuden genagt hatte.
Heute ist das Quartier dabei, quicklebendig zu werden. Es liegt nicht weiter von Marktplatz und Rathaus entfernt als der Brill in Bremen vom Dom. Im Sphinxkwartir hat sich Lods 5, eine Art Ikea de luxe, angesiedelt genau wie eine Kaffeerösterei namens Coffeelovers. Maastricht-Besucher steigen im Hotel „The social hub“ ab und müssen nur einmal um die Ecke biegen, um einen schönen Ausblick aufs Hafenbecken zu haben, gut essen oder einen guten Film gucken zu können. „Die Hauptfunktion bleibt aber das Wohnen“, sagt Hoorn, „wohnen, wohnen, wohnen.“ Viele Studenten sind hier zu Hause. Sie prägen das Bild der Stadt nachhaltig. Von den 120.000 Einwohnern sind 20.000 an einer der Universitäten oder Hochschulen eingeschrieben. "Diese jungen Leute müssen Sie ins Zentrum holen", sagt Hoorn. Am Hafenbassin entstehen gerade in ehemaligen Bürogeschossen über 200 Studentenwohnungen.
So gut sich vieles anhört und entwickelt, „wir haben aber auch Fehler gemacht“, sagt Hoorn. Der Anteil an Sozialwohnungen zum Beispiel sei viel zu niedrig. Er liege vielleicht bei zehn Prozent. Wohnen in Maastricht ist teuer. Das müsse sich ändern. Auch fehlt es Hoorn in manchen der neu geschaffenen Wohnquartiere an Grün. Tatsächlich sind viele Flächen versiegelt. Das merkt man besonders, weil nirgends Autos zu sehen sind. Des Rätsels Lösung liegt unter der Erde. Maastricht hat alle oberirdischen Parkhäuser abgerissen, dafür ist gefühlt die halbe Stadt unterkellert mit Tiefgaragen.
„Ich kenne Ihre Stadtentwickler in Bremen nicht“, sagt Hoorn, „aber wichtig wäre, dass sie starke Persönlichkeiten sind.“ Drei Personen würden im Grunde reichen, um eine Stadt zu entwickeln. Der Bürgermeister, der Baudezernent und ein städtebaulicher Regisseur, den er „urbanen Magier“ nennt, müssten derselben Idee folgen. In Maastricht lautete die immer: „Qualität als Verpflichtung“. Man müsse Nein sagen können, wenn ein Investor nicht bereit sei, diesen hohen Anspruch einzulösen. „Wir waren streng“, sagt Hoorn. Maastricht gilt bei Architekten und Entwicklern als schwierige Stadt. Hans Hoorn findet, dass es anders nicht geht.

Suzanne Mestrom arbeitet für die Stadt Maastricht in der Abteilung Wohnen. Ganz aktuell schafft die Stadt die Voraussetzungen für 200 Studentenwohnungen am Hafenbecken am sogenannten Sphinxkwartir.