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Deutschlandstudie „Es trifft die Innenstadt mit Wucht“

Fast jeder Dritte will nach Corona seltener oder gar nicht mehr die Innenstadt besuchen. Als Einkaufsort verliert sie an Bedeutung. Befunde aus einer Studie, über die wir mit ihren Autoren gesprochen haben.
22.09.2022, 05:00 Uhr
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„Es trifft die Innenstadt mit Wucht“
Von Marc Hagedorn

Herr Kremming, Deutschlands Innenstädte werden in Ihrer Studie von den Befragten mit der Schulnote 3 bewertet – wie interpretieren Sie das Ergebnis?

Martin Kremming: Mit dieser Note kann man als Stadt nicht zufrieden sein. Vor allem wenn man weiß, dass besonders diejenigen sehr kritisch in ihrem Urteil sind, die über vergleichsweise viel Geld verfügen, also für eine hohe Kaufkraft stehen. Das sind vor allem die Menschen zwischen Mitte 30 und Mitte 50.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie bei Ihrer Umfrage gewonnen haben?

Es gibt ein paar Dauerbrennerthemen, und dazu gehört unter anderem der große Wunsch nach ausreichend öffentlichen Toiletten. Das klingt vielleicht zum Schmunzeln im ersten Moment, ist aber ein ganz entscheidender Punkt, wenn man möchte, dass die Menschen lange im Zentrum bleiben, dass sie schauen, dass sie sich treiben lassen, dass sie verweilen.

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Welche Rolle spielen die Innenstädte heute noch als Einkaufsort?

Wir machen diese Umfragen schon sehr lange, und die Einkaufmöglichkeiten standen bei den Befragten immer ganz oben auf der Wunschliste. Das Thema Einkauf liegt auch jetzt noch vorne, aber die Werte sind seit ein paar Jahren komplett eingebrochen. Viel größere Bedeutung haben Aspekte wie öffentliches Grün, Gastronomie, Sauberkeit und Aufenthaltsqualität gewonnen. Wenn man als Stadt hier nicht punktet, wenn man als Besucher zum Beispiel am Bahnhof von stechendem Uringestank empfangen wird, ist das Urteil schnell gefällt. Dann wird es schwierig, diese Menschen als Kunden oder Besucher zurückzugewinnen.

Welche Rolle spielt der Innenstadtbesuch für junge Leute?

Die jungen Leute sind schon an der Innenstadt interessiert, aber sie gehen dort nicht zum Einkaufen hin. Sie wollen etwas anderes erleben, sie wollen einen anderen Mix haben, genau wie die kaufkräftigen Kunden übrigens. Die vielen Leerstände, auch auf großen Flächen, kommen nicht von ungefähr. Für H&M oder C&A kann ich auch in den Weserpark oder in die Waterfront fahren.

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Was bedeuten Leerstände für eine Stadt?

Wenn Flächen leer stehen, fällt das zunächst einmal auf. Das tut weh, so etwas zu sehen. Wir nennen diese Flächen Transformationsflächen. Wir reden von 10 bis 15 Prozent, die nach Corona frei geworden sind. Man kann für manche Städte sogar davon ausgehen, dass wir perspektivisch über bis zu 30 Prozent an Transformationsflächen sprechen, auf denen die althergebrachte Nutzung gefährdet ist. Das sind Flächen, die man an den Markt bringen muss, um sie neu zu nutzen und zu denken. Das macht Bremen mit den Pop-Up-Stores schon ganz gut, wie ich finde. Bremen scheint die Herausforderung verstanden zu haben. Aber dieser Ansatz muss jetzt auch dauerhaft verfolgt werden.

Wenn man Ihre Studie liest, fällt auf, dass die Menschen Pflegeartikel und Lebensmittel in der Stadt kaufen wollen. Heißt das, dass wir mehr Drogerien wie DM und Rossmann, dass wir mehr Supermärkte in der Innenstadt brauchen?

Die Leute erwarten tatsächlich Basics, das heißt, man muss einen Drogeriemarkt in der Innenstadt haben, man muss Lebensmittel einkaufen können. Bremen hält dieses Angebot vor. Der Rewe in der Obernstraße ist am richtigen Ort, er verfügt über ein Convenience-Sortiment, und das passt, denn dorthin geht niemand, um eine Kiste Wasser zu kaufen. Auch der Lidl, quasi im Parkhaus gelegen, ist genial. Das sind gut gewählte Standorte. Dazu sind Kleidung und Wäsche ebenfalls Standardangebote für eine Innenstadt.

Und was sind die Angebote, die den Unterschied machen?

Regionale Angebote machen den Unterschied. Regional, nachhaltig und von hoher Qualität soll das Angebot sein. Wenn man deutschlandweit fragt: ,Was muss eine Innenstadt bieten?‘, hören Sie nichts von Billigangeboten, nichts von Discountern oder Filialisten.

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In Bremen gibt es das Geschäft „Made in Bremen“ mit Produkten, die in Bremen hergestellt worden sind.

Ein toller Laden, wie ich finde. Davon könnte die Stadt noch viel mehr vertragen. Gäste und Touristen brauchen etwas zum Stöbern, aber nicht für den Versorgungseinkauf, sondern als hochwertiges Angebot.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn ich heutzutage eine neue Jeans brauche, und ich kenne meine Größe, dann bestelle ich mir die Hose mit ein paar Clicks im Netz. Aber wenn ich eine gute Vorauswahl möchte, gehe ich zu einem Händler, der seine Zielgruppe kennt und deshalb genauso eingekauft hat, wie ich mir das wünsche. Dieser Händler kann mir zur Jeans auch noch den Gürtel und das passende Hemd heraussuchen und vielleicht sogar ein paar persönliche Stylingvorschläge machen. Das ist das hochwertige Angebot, das die Menschen suchen, am besten noch in einem Geschäft, das attraktiv gestaltet ist.

Nachhaltigkeit scheint auch eine immer größere Rolle zu spielen.

Mit dem Thema Nachhaltigkeit kann man ganz viele Leute gewinnen. Das ist nicht nur ein Trend, sondern das ist tatsächlich ein Wandel, den wir gerade erleben. Die Menschen wollen ein gutes Gewissen haben beim Einkaufen.

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Für Regionalität sorgen auch Wochenmärkte.

Und die stehen bei den meisten Menschen hoch im Kurs. Bremen ist da im Grunde ganz gut aufgestellt. Es gibt einen tollen Standort mit dem Domshof, aber da muss sich noch viel mehr entwickeln. Da ist sehr viel Luft nach oben. Ich weiß, dass seit Jahren Diskussionen darüber laufen… Ich kenne Märkte in Städten wie Freiburg, dort schieben sich die Menschen regelrecht durch die Reihen, weil das Ganze so ansprechend gemacht ist.

Laut der Studie können auch öffentliche Einrichtungen, Ämter und Behörden eine wichtige Rolle bei der Transformation einer Innenstadt spielen. Wie ist das gemeint?

Im dänischen Aarhus steht das Dokk1, das ist ein Projekt, das gerade europaweit bei Stadtplanern herumgereicht wird. Wir waren letztens selbst dort. Ein Beispiel: Man bestellt seinen Reisepass in Dänemark im Internet, bekommt einen QR-Code, scannt ihn am Dokk1 und aus einem Schlitz, zack, fällt der Pass heraus. Faszinierend. Zum Dokk1 gehört eine riesige öffentliche Bibliothek. Es gibt dort Coworking-Spaces. Gründer sind dort eingezogen. Das ist ein bisschen so wie das Forum in Groningen. Die Krönung am Dokk1 ist ein automatisiertes unterirdisches Parkhaus. Sie stellen ihr Auto hin, es wird mit dem Handy kurz abgescannt, und dann fährt es alleine in den Untergrund.

In Bremen fällt einem in diesem Zusammenhang das Parkhaus Mitte ein.

Ich weiß, wie kompliziert das Thema in Bremen an dieser Stelle ist, aber im Grunde kann die Stadt froh sein, dass es eine solch zentrale Fläche gibt, die man neu entwickeln kann. Sie könnte ein Impuls für die gesamte Innenstadt sein. Man soll bloß nicht automatisch denken, dass da jetzt wieder Handel hin muss. Man kann so eine Lage auch anders denken. Warum nicht als Forum für die Bürgerinnen und Bürger, als ein Ort, der Themen wie Stadt, Kultur, Bildung bündelt.

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In Ihrer Studie ist auch die Rede von der Post-Corona-Stadt. Sie schreiben von 30 Prozent der Befragten, die sagen, dass sie gar nicht mehr oder seltener als vor Corona in die Stadt gehen. Was bedeutet das?

Noch nie war die Wucht an Themen – Mobilität, Digitalisierung, Wohnen, Klima, Energiekosten, Corona – so geballt wie gerade für Innenstädte. Es gibt Menschen, die meiden seit Corona Menschenansammlungen. Dann gibt es diejenigen, die sagen: ,Das, was ich brauche, gibt es in der Innenstadt eh nicht mehr‘. Oder sie sagen, ich kann es mir nicht mehr leisten, mit dem Bus- oder Straßenbahnticket in die Innenstadt zu fahren, ganz zu schweigen von der allgemeinen Kaufzurückhaltung wegen der gestiegenen Energiekosten, ein Thema, das zum Zeitpunkt der Umfrage im Juni noch gar nicht so groß war. Was sich da gerade summiert, ist schon besorgniserregend.

Das Gespräch führte Marc Hagedorn.

Zur Person

Martin Kremming

ist Geschäftsführer der Beratungs- und Managementfirma Cima, die Büros in mehreren deutschen Städten hat und regelmäßig den Cima-Monitor veröffentlicht. Für die „Deutschlandstudie Innenstadt“ hat das Unternehmen 2400 Menschen bundesweit befragt. Kremming ist Büroleiter in Hannover und Leipzig.

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