Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Millionen-Erbe oder Betrüger? Amtsgericht rätselt über Namen eines Bremers

Ist er Manfred Gläser oder Henry Lewy? Das Bremer Amtsgericht versucht seit zwei Jahren, die wahre Identität eines Mannes herauszufinden, der behauptet, Erbe eines märchenhaften Vermögens zu sein.
14.02.2019, 21:59 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Amtsgericht rätselt über Namen eines Bremers
Von Jürgen Hinrichs

Dies ist eine Geschichte, die aus vielen Geschichten besteht. Alle handeln sie von einem Mann, der von sich behauptet, ein anderer zu sein als der, für den ihn die Behörden bisher gehalten haben. Der Mann ist 84 Jahre alt, vielleicht ist er aber auch 91, je nachdem, ob er Manfred Gläser ist oder Henry Lewy, diese beiden Namen stehen an seinem Klingelschild. Seit zwei Jahren versucht das Bremer Amtsgericht mit großem Aufwand, seine wahre Identität herauszufinden. Gläser oder Lewy? Es hängt viel davon ab.

Ist er der Sohn einer deutschen Familie aus Bremen oder Abkömmling einer jüdischen Familie mit Wurzeln in Breslau? Als Henry Lewy, sagt der Mann, steht ihm ein märchenhaftes Vermögen zu. Sein jüdischer Vater, sagt er, hat mit den Nationalsozialisten Geschäfte gemacht und dabei Unmengen Gold, Silber und andere Edelmetalle angehäuft. Dieses Erbe, verwahrt auf Treuhandkonten in der Schweiz, will er nun endlich antreten.

So eine Geschichte ist das. Das Wenigste davon ist absolut sicher, und nichts muss völlig falsch sein. Ein Spagat zwischen Fantasie, Lüge und Wirklichkeit, so bizarr, verworren und verwoben, so sehr auch mit der deutschen Vergangenheit behaftet, dass es ein Abenteuer ist, sich darauf einzulassen.

Ein Mann also mit zwei Namen und einer Vita, die schillert wie das Gold und Silber, mit dem er gehandelt hat. Er ist als Manfred Gläser ein verurteilter Betrüger, hat Anleger um Millionen gebracht und mit dem Geld in Luxus geschwelgt. Er saß einige Jahre im Gefängnis, fünf davon in Marokko.

Letzte Verurteilung im Jahr 2013

Allein diese Episode aus Nordafrika ist schon Stoff für einen Film: Eine betrogene Anlegerin, die den Mann, der ihr das angetan hat, den Mann in dieser Geschichte, in einem Luxushotel in Casablanca aufspürt und von einem ehemaligen Fremdenlegionär aus dem Kleiderschrank fischen lässt, in dem er sich versteckt hält. Was die Polizei nicht geschafft hatte, gelang einer Frau, die ihre Wut auf den Betrüger in die Tat umsetzte.

Seine letzte Verurteilung stammt aus dem Jahr 2013. Zwei Jahre auf Bewährung, weil er sich an das Geld älterer Damen herangemacht hatte. Der Mann hat Charme und Überredungsgabe. Ein moderner Felix Krull im Seniorenalter.

Obskur auch dieses Geschäft: Edelmetalle, die vor zehn Jahren in einem Bunker in der Bremer Überseestadt, dem sogenannten Metal-Tower, eingelagert wurden und plötzlich verschwunden waren. Das Silber, Gold und Kobalt gehörte Kunden, denen die Firma Crystal versprochen hatte, ihr Geld sozusagen zu versilbern, um mit den erworbenen Metallen traumhafte Renditen zu erzielen. Eine Idee, die für die Anleger zum Totalverlust führte. Die Staatsanwaltschaft konnte den Fall nicht restlos aufklären. Lewy, wie der Mann hier genannt wird, kam als Geschäftsführer von Crystal ungeschoren aus der Sache heraus, seine Tochter, die von ihm irgendwann das Unternehmen übernommen hatte, erhielt wegen Bankrotts einen Strafbefehl.

Heute will er von all dem nichts mehr wissen, tut die Fälle als großes Missverständnis ab, manchmal auch als große Dummheit. Trotzdem, er ist ein Mann, der immer mal wieder gelogen hat. Aber, und da wird es interessant, es könnten Lügen gewesen sein, die er selbst nicht mehr als solche erkannt hat. Eigene Wahrheiten, ein psychologisches Phänomen, das gar nicht selten ist. Jemand, der sich an seiner Erzählung berauscht, darin aufgeht, sie selbst irgendwann glaubt und deshalb authentisch ist, wenn er seine Geschichten auftischt. Eine perfekte Tarnung, gespickt mit unzähligen Einzelheiten.

Lesen Sie auch

Genauigkeit ist die List des Betrügers, er darf sich nur nicht vertun, muss stets bei seiner Version bleiben. Es ist eine Kunst, die umso leichter fällt, wenn die Verwandlung gar keine mehr ist, weil die Rolle verinnerlicht wurde. „Der Mann“, sagt die Staatsanwaltschaft kurz und knapp, „ist der Betrüger schlechthin.“

Und doch könnte er dieses Mal recht haben, ganz oder teilweise. Es gibt dafür zwar keinen schlagenden Beweis, aber Indizien. Für das Amtsgericht reicht das noch nicht, es verlangt Urkunden, die über jeden Zweifel erhaben sind. Erst dann, sagt die Amtsleitung, kann das Standesamt die neuen Papiere ausstellen. Eine andere maßgebliche Seite hat sich aber bereits festgelegt. Für sie ist unumstößlich, dass Manfred Gläser nicht Manfred Gläser ist, sondern Henry Lewy.

Das Siegel stammt vom Oberrabbinat in Israel. Unterschrieben haben es ein Oberrabbiner aus Frankfurt und Netanel Teitelbaum, der Bremer Landesrabbiner. Auch Elvira Noa, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Bremen, engagiert sich in der Sache.

„Nach aufwendigen Recherchen, bei denen wir die vorgelegten Dokumente geprüft und viele Zeugen angehört haben, bestätigen wir hiermit, dass Manfred Gläser Jude ist und er der Sohn von Julius Lewy, geboren am 3. Oktober 1902 in Gleiwitz/Oberschlesien, und von Katja Mayer geborene Robinski, geboren am 23. März 1907 in Willkirchen/Kreis Tilsit, ist“, heißt es in dem Schreiben. Das ist kein Vielleicht mehr und kein Könnte sein. Es ist eine Feststellung. „Manfred Gläser trägt den jüdischen Namen Henry Issac Hermann Lewy, den er bei seiner Geburt von seinen Eltern bekommen hat. Er ist am 14. Dezember 1927 in Breslau geboren.“

Manfred Gläser ist Henry Lewy. Er ist ein Jude, sagt die Jüdische Gemeinde. Diesen Punkt hat er schon mal gemacht. Die Glaubensgemeinschaft nimmt ihn in ihren Schoß auf. Anders die säkulare Welt, sie will ihn als Henry Lewy noch nicht anerkennen. Sein Kampf geht weiter.

"Es ist zum Verrücktwerden"

Lewy lebt in der Bremer Innenstadt, in einem Ein-Zimmer-Appartement. Über dem Bett hängt ein Bild, das eine Hängebrücke zeigt, sie ist aus Bambus und führt in den Nebel. Die Wohnung birst förmlich, überall Akten und Mappen, kaum noch Platz für etwas anderes, außer auf dem Fensterbrett, dort drängeln sich die Orchideen, „ich liebe Orchideen“. Lewy trägt eine Kippa, er ist seit einem Jahr Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Bremen. An die Lampe über seinem Tisch hat er zwei Papierfähnchen geklemmt, die Farben von Israel. Alles nur Staffage?

„Es ist zum Verrücktwerden“, schimpft er, „ich bin reich und sitze in dieser kleinen Hütte.“ Lewy sagt, er habe früher kurz als Bauingenieur gearbeitet. Die kleine Rente aus dieser Zeit reicht nur fürs Nötigste. Auf großem Fuß, mit welchem Geld auch immer, lebt er jedenfalls nicht mehr. Einmal, vor elf Jahren, war Lewy bei der Schaffermahlzeit, eingeladen von einem hoch angesehenen Bremer Kaufmann. Mit an der Tafel saßen Gäste wie Günther Oettinger, Klaus Wowereit und Alexander Prinz von Sachsen. Einer von drei Schaffern war damals Niels Stolberg, der kurz darauf mit seiner Reederei Beluga unterging und wegen Betrugs verurteilt wurde.

Lewy war mal schwer krank, konnte über Monate kaum noch das Bett verlassen, hat sich jetzt aber wieder berappelt. Ein alter Herr mit blitzenden Augen unter den buschigen Brauen und hellwachem Geist. Er weiß genau, wo in dem Konvolut, das sich in seiner Wohnung stapelt, dieses eine Papier zu finden ist, das er gerade benötigt, um zu beweisen, dass er recht hat. Es sind lauter Dokumente, mit Siegel, Stempel und allem. Sie stammen aus der ganzen Welt und enthalten Punkte, die mit Lewys Geschichte verknüpft sind.

Auch beim dritten, vierten und fünften Mal, beim dritten, vierten und fünften Besuch des Reporters in der winzigen Wohnung verrutscht ihm in seiner großen Erzählung, die sich über Jahrzehnte erstreckt und mit Bezügen speziell zur Zeit des Nationalsozialismus angereichert ist, kein einziges Detail und kein einziger Name. Das ist perfekt in der Wiederholung, muss deswegen aber noch lange nicht wahr sein. Ein Zweifel, den das Oberrabbinat und der Bremer Landesrabbiner nicht haben: „Unser persönlicher Eindruck war es, dass die Darstellungen sehr detailliert, widerspruchsfrei und aus unserer Sicht glaubhaft waren.“

Lesen Sie auch

Nach den Schilderungen von Lewy, aufgeschrieben in den vielen Papieren für die Behörden, hat er die ersten Jahre seiner Kindheit in Breslau verbracht. 1933 ließen ihn die Eltern bei Verwandten in Bremen und tauchten danach unter, um der Gestapo zu entgehen. Die Verwandten, drei Schwestern, sahen ein Jahr später die Möglichkeit, das Kind quasi zu legalisieren. Sie hatten eine Angestellte, die einen Jungen zur Welt brachte, der kurze Zeit später verstarb. An seine Stelle rückte Henry Lewy, er war von nun an Manfred Gläser. Die Tanten des Kindes wurden 1941 nach Minsk deportiert und dort ein Jahr später mit anderen Juden aus Bremen ermordet. Der kleine Lewy überlebte, verborgen unter dem Mantel einer Familie, die von dem mörderischen Rassenwahn der Nationalsozialisten nichts zu befürchten hatte.

Seinen Bericht unterlegt er mit diversen Abschriften und Kopien. Eine davon ist die Heiratsurkunde seiner leiblichen Eltern, wenn sie denn seine Eltern waren. Das Amtsgericht hat sich mit dieser Urkunde auseinandergesetzt und Mitarbeiter des Standesamtes zurate gezogen. Nach ihrer Einschätzung handelt es sich genau genommen um einen Heiratsantrag für die Behörden, der freilich nicht vermerke, dass die Eheleute ein Kind haben. Doch wie sollte das gehen? Das Kind war damals noch gar nicht auf der Welt.

Was fehlt, ist die Geburtsurkunde. Lewy sagt, sie sei verschollen. Schicksal, sagt er, was soll man machen. Hieb- und stichfest mit einer Urkunde beweisen kann er lediglich die Geburt von Manfred Gläser.

Als Ersatz behilft sich Lewy mit einem Auszug aus dem Melderegister von Amsterdam. Darin ist vermerkt, dass die Eheleute Lewy 1936 mit ihrem Sohn Henry von Breslau kommend eingereist sind. Demnach hat es dieses Kind gegeben. Aber musste es zu der Zeit nicht längst in Bremen gewesen sein, wenn Lewy mit seiner Darstellung recht hat?

So verschlungen diese Pfade schon sind – einmal um die Ecke geht es noch. Eine Volte, die notwendig ist, um aus Manfred Gläser nicht nur Henry Lewy zu machen, sondern zum reichsten Mann von Europa, wie er von sich behauptet.

Daten stimmten überein

In dem Dokument aus den Niederlanden, das Lewy angefordert hatte und das ihn erreichte, als er im Gefängnis saß, taucht das erste Mal der Name Jan van Harten auf. Erwähnt werden außerdem Julian Lewy, seine Frau Kate Robinski und der gemeinsame Sohn Henry. Sämtliche Geburtsdaten stimmen mit denen überein, die von der Jüdischen Gemeinde als wahr angenommen werden.

Doch wer ist dieser van Harten? Das Amsterdamer Gemeindearchiv weist ihn als Ehemann von Herta Robinski aus, der Schwester von Kate Robinski. Dann wäre er der Onkel von Henry Lewy gewesen. Lewy nimmt ihn im Fortgang der Geschichte aber als seinen Vater. So erst kommt die Spur zu dem Vermögen zustande, das heute noch in der Schweiz liegen soll.

Wer also ist dieser van Harten? Es gibt die wahre Geschichte eines Mannes, der als jüdischer Agent für die Nationalsozialisten aktiv war. Sein Name: Jaques-Jules Yaacov Levy, alias Jaac van Harten. Er soll als Kunst- und Juwelenexperte zu Diensten gewesen sein, als in Ungarn die Juden ausgeraubt wurden.

Am 11. Juli 1940 verhörte die Schweizer Polizei in Lausanne ein jüdisches Paar aus Deutschland. Der Mann und die Frau besaßen gefälschte holländische Pässe, die auf den Namen van Harten ausgestellt waren. Der echte Jaac van Harten sei ein holländischer Chauffeur, dessen Identität übernommen worden sei, hatte eine Zeuge ausgesagt. Im Verhör soll der angebliche Jaac van Harten zugegeben haben, dass er eigentlich Jacques Jules Levy heißt, 1901 in Gleiwitz/Schlesien geboren und in Breslau aufgewachsen. Dann kommt in der Aussage ein Sohn ins Spiel, dem Alter nach könnte es Henry Lewy gewesen sein.

So passt es wieder. Der Vater hatte sich an dem Namen seines Schwagers bedient, des Onkels von Henry.

Nachzulesen ist dieser Krimi in dem Beitrag „Die Van-Harten-Affäre“ des israelischen Journalisten Shraga Elam. Die Quelle ist öffentlich zugänglich, es reichen ein paar Klicks im Internet. Hat Henry Lewy, der diese Recherchetechnik beherrscht, sich den Text des Journalisten möglicherweise zu eigen gemacht und mit anderen historischen und biografischen Details verwoben? Oder ist der Mann mit dem Alias-Namen van Harten tatsächlich sein Vater? Ist alles erfunden, nur ein bisschen oder gar nichts?

Jacques Jules Levy, alias Julius Lewy, alias Jaac van Harten, reiste nach dem Krieg mit seiner Frau, die ihn aus der Haft bei den Amerikanern loseisen konnte, nach Israel aus. Er soll ungeheure Reichtümer im Gepäck gehabt haben. 1973 starb er in Tel Aviv. Henry Lewy, sein vermeintlicher Sohn, will erst 1985 davon erfahren haben, zu welcher Familie er tatsächlich gehört. „Ich wurde nach Genf eingeladen, zur Testamentseröffnung“, sagt Lewy.

Sechs Richter haben sich bisher damit beschäftigt

Wieder sind es diese Details: Die vielen Treuhänder des Vermögens mit ihren glanzvollen Namen. Die Zahl der Banken, bei denen das Geld und Gold deponiert sein sollen, 27 sind es. Die Suite im Genfer Hotel du Rhone, einer Nobelherberge, wo er untergebracht worden sein will. Lewy schildert sehr bildhaft. Das sind ganze Szenen, die jedes Mal aufscheinen. In diesem Fall das mondäne Genf, die Nobelherberge, reiche und mächtige Männer, die Lewy darüber unterrichten, dass er der Universalerbe unermesslicher Güter ist.

Genauigkeit ist die List des Betrügers. Doch wer betrügt oder hat betrogen? Von Manfred Gläser kann man das sagen, weil er unter diesem Namen verurteilt wurde. Von Henry Lewy bisher nicht, auch wenn beide ein und dieselbe Person sind.

„Wir sind mit Hochdruck bemüht, zu einem Ende zu kommen“, verspricht Ann-Marie Wolff, Präsidentin des Bremer Amtsgerichts. Sechs Richter bisher, die sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben. Die Präsidentin findet den häufigen Wechsel unglücklich. Sie versichert aber, dass sich jeder ihrer Kollegen sofort hineingekniet habe. So etwas, sagt Wolff, hätten sie schließlich nicht oft, eigentlich nie: „Es ist ein ganz besonderer Fall.“

Ein Fall, der für Lewy wohl nie zu Ende geht. Beim letzten Besuch, als alles noch einmal durchgesprochen wird, zückt er die nächsten Dokumente. Wieder neue Ansatzpunkte, aber auch viele Rätsel. „Junge“, gibt er zum Abschied zu, „ganz schön viele Fragezeichen.“

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)