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Kinderliteratur im Umbruch Ängste, Tod, soziale Probleme: Bilderbücher als Spiegel der Gesellschaft

Themen wie Geschlechterrollen und Interkulturalität finden ihren Weg in die Kinderliteratur. Mädchen und Jungen sollen so an komplexe Themen herangeführt und für sie sensibilisiert werden.
08.03.2019, 20:23 Uhr
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Ängste, Tod, soziale Probleme: Bilderbücher als Spiegel der Gesellschaft
Von Alexandra Knief

Teddy Thomas ist heute ungewöhnlich traurig. Die blaue Fliege an seinem Hals hängt schlaff herunter. Seine Mundwinkel auch. Sein Freund Finn weiß nicht, warum. Nicht einmal Schaukeln macht Teddy heute wirklich Spaß. Finn hakt nach, bis Teddy Thomas schließlich mit der Sprache rausrückt: Eigentlich, verrät er schüchtern, würde er lieber Tilly heißen. Für Finn kein Problem. Und auch für seine Freundin Kim – die in ihrer Freizeit gerne Roboter baut – kein Thema. Teddy Thomas‘ Fliege wandert vom Hals ins Haar und alle sind Freunde. So wie schon zuvor.

Das Leben könnte so viel einfacher sein, wenn die Realität so wäre wie im Bilderbuch „Teddy Tilly“ von Jessica Walton. Das ist sie oft nicht, aber Bücher wie dieses können dazu beitragen, Kinder zu mehr Toleranz zu erziehen und ihnen auf spielerische Weise gesellschaftsrelevante Themen näher zu bringen. Transsexualität ist nur eine von vielen Thematiken, die in den vergangenen Jahren verstärkt Einzug in den Markt der Bilder-, Kinder- und Jugendliteratur gefunden haben. Das Spektrum an Themen sei breiter und komplexer geworden, betont Elisabeth Hollerweger, Leiterin des Instituts für Bilderbuchforschung (BIBF) an der Uni Bremen. Die Geschichten für die Kleinen drehen sich schon lange nicht mehr nur um bunte Ponys und mutige Piraten. „Ich würde sagen, man traut Kindern heute einfach mehr zu.“

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Die Palette ist breit. Es gibt Arbeits- und Obdachlose im Kinderbuch, Scheidungen werden genauso thematisiert wie Ängste und Depressionen, Suchtprobleme, Krankheit und Tod. Die Geschichten handeln von Vätern im Gefängnis, von häuslicher Gewalt. Geschlechterrollen werden umgeworfen und hinterfragt. Im Rahmen der Flüchtlingswelle seien unter anderem auch viele gute Bücher zum Thema Flucht und Interkulturalität auf den Markt gekommen. Auch, dass immer häufiger Bücher aus anderen Kulturkreisen, zum Beispiel aus dem asiatischen Sprachraum, ins Deutsche übersetzt werden, kann laut Hollerweger als Zeichen des Interesses an wachsender kultureller Vielfalt im Bilderbuch gesehen werden.

Kinder zu mehr weitsicht verhelfen

Im Bücherregal des Instituts für Bilderbuchforschung haben viele dieser Themenblöcke mittlerweile sogar ihr eigenes Fach. Mit „Tod und Krankheit“ ist hier das mittlere Regalbrett beschriftet. Die Aufschrift „Soziale Probleme“ klebt nur ein Stück weiter links. Viel steht hier noch nicht. Aber das Regal füllt sich, wie Hollerweger betont. Sogar Preise und Festivals, die gezielt Bücher, die sich mit einer realistischen Abbildung unserer vielfältigen Gesellschaft beschäftigen oder Kinder auf andere Weise stärken und zu mehr Weitsicht verhelfen, gibt es mittlerweile. Darunter zum Beispiel das Kinderbuch-Festival Kimbuk oder der Huckepack-Bilderbuchpreis.

Doch auch, wenn sich auf dem Kinderbuchmarkt viel tut, läuft noch lange nicht alles ideal, findet Mareike Lappat, Teamleiterin Medien im Bereich Kinder, Jugend, Bibliothekspädagogik der Stadtbibliothek. „Ich würde mir wünschen, dass einige Dinge noch viel selbstverständlicher am Rande thematisiert werden und nicht immer als Hauptthema“, sagt sie. Zum Beispiel wie in „Mo und die Krümel – Der erste Schultag“ (2015) von Rüdiger Bertram und Heribert Schulmeyer. Hier geht es vor allem um die Abenteuer, die die Schüler in der Geschichte erleben. Dass eines der Kinder im Rollstuhl sitzt und alle verschiedene kulturelle Hintergründe haben, ist einfach so, sagt Lappat. Den Kern der Geschichte mache es aber nicht aus.

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Dass die Kinderbuchlandschaft trotz wachsender Bandbreite noch lange keine gesellschaftliche Realität abbildet, zeigen auch zahlreiche Studien. So zum Beispiel eine aktuelle Untersuchung der „Süddeutschen Zeitung“. Die Zeitung hat den Schlagwortkatalog der Bibliothek für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt am Main systematisch ausgewertet. Das Ergebnis: Gerade im Bereich der Geschlechterrollen im Kinderbuch gibt es noch einiges zu tun. Noch immer sind es vor allem Jungs, die in den Büchern spannende Abenteuer erleben, während sich die Erlebniswelt von Mädchen häufiger um Tiere, die Familie und die bekannte Alltagswelt dreht.

Literarisch noch lange nicht am Ziel

Und auch eine 2018 in Großbritannien unter dem Titel „Reflecting Realities“ veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass man literarisch noch lange nicht am Ziel ist: Während in britischen Klassenzimmern fast jedes dritte Kind einer kulturellen Minderheit angehört, spielt in gerade einmal vier Prozent der 2017 in England veröffentlichte Kinderbücher ein Charakter aus einem anderen Kulturkreis eine Rolle. Wirft man einen Blick auf die Hauptfigur, ist es gerade einmal ein Prozent.

Glaubt man den Bilderbuchkünstlern, so Hollerweger, ist es schwieriger, Bücher zu vermarkten, die komplizierte Themen fernab des Mainstreams behandeln. Das große Geld mache man mit diesen Büchern oft nicht. Eher sei es den Autoren und Illustratoren ein persönliches Anliegen, bestimmte Thematiken auf den Markt zu bringen. Und nicht immer kommt mehr Offenheit im Bilderbuch gut an: Das Buch „Wo bitte geht's zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ von Michael Schmidt-Salomon ist laut Hollerweger sogar eine Zeit lang verboten worden, da es sich mit dem Thema Religionskritik beschäftigt.

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Viele Eltern hätten außerdem Angst, ihr Kind mit derartigen Büchern zu überfordern oder ihm Dinge zuzumuten, die es noch nicht verarbeiten kann. Daher greifen viele lieber zu altbewährten Büchern, die sie selbst in ihrer Kindheit gerne gelesen haben. Janosch, Astrid Lindgren, Erich Kästner – mit den Geschichten dieser Autoren ist wohl fast jedes Kind aufgewachsen. Schön sind die Geschichten, irgendwie zeitlos und bei jeder Generation beliebt. „Der Buchmarkt gibt allerdings eine Menge mehr her“, sagt Mareike Lappat. Und auch Hollerweger weiß, dass Eltern sich bei der Buchauswahl oft selbst im Weg stehen. „Gibt man seinen Kindern nur Bücher, die man selbst gern mochte, schränkt man sie auch darin ein, eigene literarische Interessen zu entwickeln“, sagt sie. Also besser: Das Kind in Buchladen und Bibliothek einfach mal laufen lassen, um zu sehen, zu welchem Buch es selbst greift.

Denn die Vorlieben von Eltern und Kindern gehen oft weit auseinander: Bei Eltern seien bis heute auch Bücher beliebt, die mit dem pädagogischen Zeigefinger daherkommen, sagt Hollerweger und meint damit Bücher mit Botschaften wie „Geh' aufs Töpfchen“. Bei den Kindern kämen die eher so mittel an und erreichten auch selten, was sie sollen. „Ein gutes Bilderbuch zeichnet aus, dass es einen Helden kreiert, mit dem sich das Kind identifizieren kann“, sagt Hollerweger. „Wenn dieser Held dann nebenbei Probleme löst, die die Kinder auch haben, umso besser.“ Doch egal welches Thema, am wichtigsten, da sind sich die Expertinnen einig, ist, dass Bücher berühren, dass sie Emotionen wecken: „Kinder sollen eine schöne Zeit mit Büchern haben.“

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