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Im katholischen Italien wird es Findelkindern fast unmöglich gemacht, ihre leiblichen Eltern zu finden Hundert Jahre warten

„Geboren von einer Frau, die ihren Namen nicht nennen will.“ Eintrag Geburtsurkunde Neapel.
28.07.2015, 00:00 Uhr
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Von Julius Müller-Meiningen

Als Kind wurde Anna Arecchia jeden Abend geschickt, um Milch für den nächsten Tag zu holen. „Du bist eine Tochter der Madonna“, sagte die Milchfrau zu ihr. Figli della Madonna, so nannte man seit Jahrhunderten in Italien die Kinder, die von ihren Müttern kurz nach der Geburt in Findelheimen abgegeben worden waren. Meist adoptierten kinderlose Paare die Kleinen, ohne ihnen je davon zu erzählen. Unehelich geborene Säuglinge waren noch im vergangenen Jahrhundert eine ebenso große Schande wie die Unfähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen.

Anna Arecchia wusste von nichts, aber sie ahnte. Als Heranwachsende erinnerte sie sich an die Worte der Milchfrau und vermutete, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sein könnten. Als sie mit 20 heiraten wollte, beantragte sie beim Standesamt in Neapel ihre Geburtsurkunde. „Geboren von einer Frau, die ihren Namen nicht nennen will“, stand dort geschrieben. „Eine Welt brach für mich zusammen“, sagt Arecchia. Sie ist heute 54 Jahre alt.

Zu den Grundbedürfnissen eines Menschen gehört es, seine Ursprünge zu erfahren. Das wissen nicht nur Psychologen. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben das festgestellt. Dennoch wird dieses Recht, bei dem zwischen dem Anspruch der Kinder und dem Schutz der Anonymität der Mutter abgewogen werden muss, nicht immer gewährleistet. Schon gar nicht in Italien. Hier müssen Adoptivkinder aus Gründen des Datenschutzes 100 Jahre warten, bis sie einen rechtlichen Anspruch auf das Wissen über ihre biologischen Ursprünge bekommen. Eine Farce. Erst jetzt, nach einem ins römische Parlament eingebrachten Gesetzentwurf, beginnt sich die Lage trotz heftiger Widerstände langsam zu ändern.

Arecchia sitzt in einem Café in der Kleinstadt Caserta bei Neapel. Die Mathematiklehrerin ist Mitgründerin des „Komitees für das Recht an den biologischen Ursprüngen“. In der Hand hält sie ein abgegriffenes Madonnenbild, zur Hälfte abgerissen. „Das Bild ist genau an der Brust der Madonna abgerissen, an ihrem Herzen. Wie ein gebrochenes Herz“, sagt Arecchia. Sie ist sich sicher, dass ihre leibliche Mutter die andere Hälfte behalten hat.

Noch im vergangenen Jahrhundert waren anonyme Geburten an der Tagesordnung. Meist sehr junge, manchmal vergewaltigte oder in außerehelichen Beziehungen geschwängerte Frauen, wollten oder konnten die gesellschaftliche Schmach eines unehelichen Kindes nicht ertragen. Die Folgen spüren Arecchia und die Tausenden anderen „Kinder der Madonna“ bis heute. In Deutschland wurde versucht, die Frage mit einem seit Mai 2014 geltenden Gesetz zu lösen, das Müttern die Möglichkeit einer „vertraulichen“ Geburt gibt. Wenn die Mutter einverstanden ist, können Kinder künftig mit 16 Jahren die Identität der Mutter erfahren. In Italien dagegen gilt immer noch die absurde 100-Jahre-Regel. „Das ist der Versuch einer immer noch katholisch geprägten Gesellschaft, das Bild einer heilen, aber in Wahrheit viel komplizierteren Welt auf Kosten der Adoptivkinder aufrechtzuerhalten“, sagt Maria Virginia Volpe, die auch als Kleinkind adoptiert und nie darüber aufgeklärt wurde.

Das Bedürfnis von adoptierten Kindern nach Klarheit über die eigenen Ursprünge ist essenziell für die Persönlichkeitsentwicklung. Arecchia engagierte deshalb Privatdetektive, ihre Freundinnen recherchierten in Archiven. „Wir sind schlimmer als der Geheimdienst“, sagt Arecchia. Heute gibt es etwa 400 000 Adoptivkinder in Italien, zahlreiche aus jüngeren Generationen. Besonders viele Frauen zwischen 50 und 60 aus dem Raum Neapel sind bis heute auf der Suche nach der Identität ihrer leiblichen Eltern. Das liegt an den Tausenden anonymen Geburten im Annunziata-Krankenhaus von Neapel. Mütter aus ganz Süditalien brachten hier ihre Säuglinge zur Welt.

Erst vor rund zehn Jahren lernte Arecchia viele Leidensgenossinnen in einem Internet-Forum kennen. „Mir wurde gesagt, meine leibliche Mutter habe mich nicht gewollt“, erzählt Maria Virginia Volpe, heute 61 Jahre alt. „Als ich vor sieben Jahren endlich den Mut fand, nachzuforschen, entdeckte ich, dass meine Mutter, die sich in einen verheirateten Professor verliebte und von ihm schwanger wurde, einen wunderbaren Brief hinterlassen und versucht hatte, mich zurückzuholen. Man sagte ihr, ich sei von amerikanischen Bauern adoptiert worden, dabei war ich bei einem Ehepaar in Neapel.“

Während viele unter dem Schutz der Anonymität geborene Adoptivkinder nie Klarheit bekommen, kam Anna Arecchia ans Ziel, zur Hälfte wenigstens. Mutter Antonietta war mit 21 von einem verheirateten Mann schwanger geworden und lies Anna im Annunziata-Krankenhaus zurück. Mit 56 Jahren starb sie in Kanada. Ihren Vater lernte Arecchia hingegen kennen. Er lebte in einem Dorf nicht weit von Caserta. Sie lernten sich kennen, das Verhältnis sei gut gewesen. Dann starb der Vater. Nur eines will ihr bis heute nicht in den Kopf gehen. Das ganze Dorf habe über ihre Herkunft Bescheid gewusst. „Nur ich selbst hatte nie ein Recht darauf, meine Ursprünge zu erfahren.“

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