Das Sprichwort über die Mentalität im Nahen Osten bewahrheitet sich dieser Tage in Bagdad mehrfach: „Die Bücher werden in Kairo geschrieben, in Beirut gedruckt und in Bagdad gelesen.“ Derzeit strömen Hunderte Irakerinnen und Iraker zu Kulturveranstaltungen, vor allem zu Literaturfestivals. Angefangen mit dem Lesefestival an der Tigris-Uferstraße Abu Nawas über das Poesiefestival auf der Mutanabbi-Straße bis hin zur Buchmesse auf dem Messegelände im Stadtteil Mansour.
"Ich bin Iraker, ich lese", fand nun schon zum neunten Mal statt, doch noch nie waren so viele Menschen dabei wie dieses Mal. Vor allem Junge, unter 25 Jahren, die mittlerweile 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Im Irak entsteht viel neue Literatur. Die Traumata der Vergangenheit finden ein Ventil auf Papier. Es werden neue Formen ausprobiert, eine Mischung aus Lyrik und Prosa ist derzeit in am Tigris. Auch hier sind es Nachwuchsschriftstellerinnen und -schriftsteller, die Zeichen setzen.
Neue Regierung, alte Gesichter
Organisiert wird das Fest von dem Journalisten Amer Mudjeid, einem Mann Anfang 30. Der Ort am Tigrisufer ist mit Bedacht gewählt. Scheherazade, die Erzählerin aus 1001 Nacht, ist dort als Bronze zu sehen. Vor vier Jahren sind junge Iraker wie Amer massenhaft auf die Straße gegangen, haben die Regierung gestürzt, ein neues Wahlgesetz gefordert, vorgezogene Neuwahlen erreicht. Die Aufbruchstimmung war ansteckend. Es roch nach Revolution. Dann kamen die Scharfschützen, die Milizen, der Geheimdienst. Über 600 Demonstranten sind getötet worden, viele wurden verfolgt und bedroht, einige verschwanden für immer. Die Bewegung erstickte.
Ein Jahr lang befand sich der Irak in einer schweren politischen Krise. Nachdem die neu gewählten Abgeordneten sich weder auf einen Kandidaten für das Präsidentenamt noch auf einen Premier einigen konnten, entbrannte ein Machtkampf im Vielvölkerstaat. Beobachter fürchteten einen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen, wie es ihn schon einmal 2006/2007 gab. Im letzten Moment konnte dies verhindert werden. Seit Oktober hat der Irak eine neue Regierung mit alten Gesichtern.
Büchermeile mit Tradition
Immer freitags trifft sich die Kultur- und Künstlerszene auf der Mutanabbi-Straße im alten Zentrum Bagdads. Der wohl wichtigste Poet der arabischen Welt hat der Straße seinen Namen gegeben. Ab 10 Uhr morgens bis zum Ruf des Muezzin zum Freitagsgebet gegen Mittag trifft sich dort, was Rang und Namen in Sachen Kultur und Kunst hat. Eigentlich eine Büchermeile, wo jeder seine Bücher verkaufen kann, wie er will, ist die Mutanabbi längst zum Inbegriff der Kreativszene geworden. Im Kaffeehaus Shabander treffen Verleger und Autoren aufeinander, Musiker und Filmemacher, Bildhauer und Maler. Freitags auf der Mutanabbi ist eine Institution, die weit ins ganze Land strahlt. Die alte Karawanserei, von der Stadtverwaltung restauriert, bietet als Kulturzentrum Räume für Veranstaltungen und Ausstellungen. Im Innenhof, wo einst Kamele Ruhe und Wasser fanden, kann man handgearbeiteten Schmuck, kleine Kunstwerke oder Souvenirs kaufen. Manchmal finden auf der Bühne Lesungen statt, so wie beim europäisch-irakischen Poesiefestival Anfang Dezember.
Die Al-Mutanabbi-Straße zählt zu den ältesten und bekanntesten Straßen der irakischen Hauptstadt und galt stets als ein Seismograf für den Zustand des Landes im Laufe der Jahrhunderte. Die Geschichte der Straße geht in die Abbasidenzeit im achten Jahrhundert zurück. Damals entstand hier der erste Buchhändlermarkt der Metropole Bagdad. Mit ihrem fast unerschöpflichen Angebot an Büchern fungiert die Al-Mutanabbi-Straße als Zeitzeugin der politischen und kulturellen Veränderungen im Zweistromland.
In den 1950er-Jahren wurden hauptsächlich marxistische Schriften angeboten, dann wurden sie von nationalistisch-panarabischen Werken ersetzt. Mehr als 30 Jahre lang beschränkte sich das Angebot auf Werke, die die Baath-Ideologie und später Saddam Hussein verherrlichten. Nach dem Sturz des Diktators fand man eine kurze Zeit alles, was gedruckt und finanziert werden konnte. Da lag der Koran, schön gebunden und mit Goldrand verziert, neben dem "Playboy" oder Hitlers „Mein Kampf“ in der arabischen Übersetzung.
Das änderte sich schnell, als ab 2005 die religiösen Hardliner die Macht im von den Amerikanern besetzten Irak übernahmen. Nacktheit wurde zum Tabu, religiöse Schriften zum Gebot. Am 5. März 2007 explodierte in der Mutanabbi-Straße eine Autobombe. Es wurden 40 Menschen getötet, fast alle Buchläden zerstört – ein gezielter Angriff islamistischer Extremisten gegen die als liberal geltende Kulturszene. Erst nach dem Abschluss der Wiederaufbauarbeiten im Dezember 2018 kehrte das Leben in die Straße zurück.
Alaa Gaber Alyaseri kommt oft zur Mutanabbi am Freitag. Die 42-Jährige sitzt im Parlament, wie 13 andere Frauen und Männer aus der Protestbewegung, aber eine schlagkräftige Opposition ist das nicht, bei insgesamt 329 Abgeordneten. Der, der das Rad hätte weiterdrehen können, hat sich aus der Politik verabschiedet: Moktada al-Sadr. „Damit hat er unsere Ziele aufgegeben“, sagt Alyaseri. Der Weg wurde frei für die „alte Garde“.
So bleibt für viele nur die Flucht in die Kultur. Ob Literatur, Musik, Bildende Kunst, Film: Experimente jeglicher Art finden derzeit massenhaft Besucher und Anhänger. Mit Politik möchten die meisten nichts mehr zu tun haben, vorerst jedenfalls. „Und von der neuen, alten Regierung ist nicht viel zu erwarten“, sagen fast alle Befragten. Der schiitische Premier ist ein alter Bekannter, war bereits zwei Mal Minister, ist ein religiöser Hardliner und steht unter Korruptionsverdacht.
Wettbewerb für junge Poeten
Die Bühne an einem Nachmittag Ende Dezember gehört einzig und allein den Nachwuchspoeten. Es ist Buchmesse in Bagdad. Vor den Hallen sitzen die Besucher auf riesigen Kissen und traditionellen Holzbänken in der Sonne, trinken einen Kaffee und beäugen ihre gerade gekauften Bücher. Keiner geht an diesem Tag ohne ein Buch nach Hause. Veranstaltet wird die Messe von dem größten Medienkonzern Iraks, Al Mada, den eine Frau leitet. Ghada al-Amely sagt, der Verlag sei noch immer das Kerngeschäft des Unternehmens, die Buchmessen in der Hauptstadt, der Kurdenmetropole Erbil und in Basra im Süden, gewinnbringend. Elf Tage lang hat die Messe geöffnet. Schulklassen kommen, Studenten, Menschen, die Feierabend haben.
Reda Muhannad ist extra aus Najaf, 180 Kilometer südlich von Bagdad, angereist, um sein Gedicht vor dem Publikum in der Hauptstadt vorzutragen. „Es ist eine super Gelegenheit, Gehör zu finden“, sagt der 25-jährige Iraker. Neben ihm stehen Sama Hussein, eine 23-jährige Bagdaderin und Ahmed Khaled (21) aus Bagdads Nachbarprovinz Anbar. Sie alle hatten an einem Wettbewerb für junge Poeten unter 25 Jahren teilgenommen, den das Inana-Netzwerk für Schriftstellerinnen im Irak alljährlich veranstaltet. Auf der Buchmesse haben sie die Möglichkeit, sich zu präsentieren.
Eine Umfrage unter den ausstellenden Verlagen ergibt, dass auch im Literaturmarkt Iraks Veränderungen stattfinden. Irak, das klassische Lyrikland, verliert seine Poeten. Immer mehr junge Leute wenden sich von der Lyrik ab, schreiben lieber Romane und Kurzgeschichten. „Dieser Trend ist schon seit einiger Zeit zu beobachten“, sagt der Verleger eines kleinen Lyrikverlags. Poesie gelte der jungen Generation als altbacken. So ist denn auch einer der Bestseller dieser Tage kein Lyrikband, sondern der Roman „Frankenstein in Bagdad“ von Ahmed Saadawi.