Die Geschichte fängt hinten an. Mit dem neunten Kapitel. Der Mann namens Lev, Arbeiter in einem privaten Sägewerk, ist aus seinem rumänischen Dorf nach Zürich gereist, um die Jugendfreundin Kato wiederzutreffen, die als Straßen- und Pflastermalerin in einem Landrover durch Europa tourt. Sie war nach dem Sturz des Diktators Nicolae Ceausescu 1989 wie so viele Siebenbürger Sachsen in den Westen gegangen, war mit dem blonden Fahrradtouristen Tom davongeradelt und hatte ihrer Jugendliebe selbst gemalte Postkarten von unterwegs geschickt. Zuletzt eine Karte mit nur drei Worten: "Wann kommst du?"
Sechs Wochen reisen Lev und Kato nun durch die Schweiz und Frankreich. Bis es ihn nach Hause drängt. ",Wir reisen gemeinsam zurück?', vergewisserte er sich. (...) ,Ja', sagte Kato. Einfach nur: Ja. Das reichte ihm für den Moment." Von diesem angedeuteten Happy End ausgehend, erzählt Iris Wolff in ihrem neuen Roman "Lichtungen" Levs Lebensgeschichte hin bis zum ersten Kapitel, einer kurzen Kindheitserinnerung an den früh verlorenen Vater, einen Waldarbeiter. Und dabei verschwindet die Leichtigkeit des Anfangs immer mehr.
Denn die Stationen auf Levs Lebensweg sind keineswegs sehr glückliche. Noch halbwegs harmlos wirkt die Episode, wie Lev nach Katos Weggang auf einem wackligen Fahrrad seine nähere Heimat erkundet, überfallen und bestohlen wird, aber Menschen findet, die ihm helfen (siebtes Kapitel). Übler sind die Schikanen beim Militär, eine Zeit, in der Levs Großvater Ferry in den Westen, nach Wien, fliehen wird (fünftes Kapitel) und die Misshandlungen der Schulkameraden (viertes Kapitel), vor denen Lev ungelenk zu seinen Halbbrüdern flüchtet, die als Baumfäller arbeiten.
Mit elf Jahren gelähmt im Bett
Das einschneidendste Erlebnis aber tut sich in der Kindheit, also gegen Ende des Buchs, auf. Lev erlebt mit, wie ein Mädchen ertrinkt, und kann nach diesem Unglück nicht mehr laufen. Eine psychische Lähmung. Das dritte und dichteste Kapitel beschreibt den im Bett liegenden Elfjährigen, der auf die Geräusche im Haus hört und – besonders skurril – sogar in einem Rollbett zur Hochzeitsfeier seiner schwangeren Schwester bugsiert wird.
Damit er den Schulstoff nicht versäumt, soll ihm eine Mitschülerin helfen. Es ist Kato, Außenseiterin wie er, und sie erweist sich als geschickte Lehrerin, die seinen Lebensmut weckt. Dornröschenkuss mal umgekehrt: Tatsächlich wird Lev am Ende des Kapitels wieder auf eigenen Beinen stehen.
Womöglich hätte es den Kunstgriff des Rückwärtserzählens nicht gebraucht: Iris Wolffs Roman entwickelt ohnedies eine starke Sogwirkung. Denn die in Hermannstadt geborenen Autorin wirft zum einen einen sehr präzisen Blick auf die Menschen dieser Vielvölkerregion und fängt zum anderen das Schwanken der Figuren zwischen Heimatverbundenheit und dem Gefühl des Hinterwäldlertums, zwischen Bleiben und Weggehen, genau ein.
Im Hintergrund rauscht dabei die kommunistische Diktatur, in der nur der richtige Radiosender gehört werden darf, Schmiergeld Türen öffnet, knappes Material schnell verschwindet und der Reaktorunfall von Tschernobyl verharmlost wird. Es sind oft starke Nebenfiguren, in denen Iris Wolff Humanität im Überwachungsstaat entdeckt. Die warnende Großmutter Bunica, der Dokumentenfälscher Camil, der Sägewerksbesitzer Imre, der früh einen Sohn verloren hat. Und Levs Opa, der ohne jeden Ortswechsel erst Österreicher, dann Rumäne, dann Ungar, dann wieder Rumäne war und sich als Österreicher fühlt. Levs fast unbemerkt herumschleichender Kater Khalil, ja die Natur selbst wird zum Symbol für das Leben der Menschen unter widrigen Bedingungen.
Fast nebenbei entpuppt sich Iris Wolffs Roman dabei als Liebeserklärung an ein freies Europa, in dem man seine Heimat überall finden kann. "Du kannst jetzt loslassen", lautet der letzte Satz.