Auf dem Cover des Buches ist eine Frau in stürmischem Wasser abgebildet, der Titel "Dunkler Abgrund" ist in blutrot darüber gedruckt. Doch was hat das mit Clara Lofthus zu tun, die gerade zur neuen norwegischen Justizministerin ernannt worden ist? Und mit Andreas, ihrem Sohn, der sich mit seinem Zwillingsbruder Nikolai in einem "engen, dunklen Raum" befindet, wie es gleich zu Beginn des Thrillers von Ruth Lillegraven heißt?
Lillegraven schreibt mit "Dunkler Abgrund" ihre Trilogie um die sozial engagierte Politikerin Clara Lofthus fort, die sie mit "Tiefer Fjord" begonnen hatte. Das kann man, muss man aber nicht wissen, um sich von den Puzzleteilen faszinieren zu lassen, die Lillegraven den Leserinnen und Lesern hinwirft. Denn die Vorgeschichte webt die Autorin in den zweiten Teil ein. Der reißerische deutsche Titel "Dunkler Abgrund" ist dabei unfassbar nichtssagend. "Av mitt blod" heißt das Buch im Original. Das bedeutet so viel wie "Von meinem eigenen Blut".
Denn Lillegravens Thriller ist vor allem die tragische Geschichte einer Familie, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven. Einen großen Anteil nimmt natürlich die Hauptperson ein, Clara Lofthus, deren labile, selbstzerstörerische Psyche die Autorin am stärksten ausleuchtet. Clara, so erfährt man peu à peu, hat es endlich geschafft, Justizministerin zu werden. Nun will sie ihr im ersten Band der Reihe skizziertes Herzensprojekt vorantreiben: den gesetzlichen Schutz misshandelter Kinder.
Keine Gnade mit Tätern
Was nobel klingt, hat einen dunklen, zwanghaften biografischen Hintergrund. Claras jüngerer Bruder wurde einst von dem neuen Lebensgefährten ihrer Mutter zu Tode geprügelt. Clara gibt sich dafür eine Mitschuld, und hat daraus eine fatale Wut entwickelt, die stets in ihr zu schlummern scheint: Sie kennt keine Gnade, was die Täterinnen und Täter angeht. Clara, das erfährt der Leser recht schnell und wie nebenbei, ist eine Mörderin: "Ahmad, Omid Carter und Susanne Stenersen, die in ihrer Badewanne starb, hatten den Tod verdient. Die Welt ist ohne sie ein besserer Ort." Zeit, möglichen "Seelenqualen" deswegen nachzuhängen, nimmt Clara sich nicht. Die Taten hat sie geschickt der Geliebten ihres Mannes in die Schuhe geschoben.
Auch dessen Tod lässt sie seltsam kalt. Der Arzt Haarvard ist beim gemeinsamen Schwimmen im See ertrunken – seither ist Clara alleinerziehende Mutter ihrer Zwillingsjungs. Das überfordert sie zusehends, und eines Tages sind die beiden verschwunden und Clara erhält Drohbriefe: Andreas und Nikolai scheinen entführt worden zu sein.
Vor dieser Kulisse setzt Lillegraven die Puzzleteile ihrer Geschichte langsam und beharrlich zu einem Gesamtbild zusammen. Das wirkt nur zu Beginn etwas unübersichtlich, weil sie viele Personen aus ihren jeweiligen Perspektiven zu Wort kommen lässt. Doch schon bald gewöhnt man sich an das Stimmengewirr, das Claras Vater Leif, ihren Verehrer Axel, die Geliebte ihres Mannes, einen Journalisten und ihren Sohn Andreas einschließt. Was mit ihren Söhnen passiert ist und wo diese versteckt sind, bleibt bis kurz vor Schluss unklar.
Die Vergangenheit mit einem weiteren ungeklärten Todesfall spielt dagegen zunehmend genauso eine Rolle wie die latente erotische Spannung zwischen Clara und ihrem Bodyguard. Die Auflösung ist nicht nur für Clara ein Schock. Sie steht vor den Trümmern ihrer privaten, aber auch beruflichen Existenz. Man kann gespannt sein, wie Ruth Lillegraven ihre Geschichte im letzten Teil der Trilogie weiter spinnen wird.