Unsere Quarantäne, ich berichtete, ist endlich beendet. Während wir die Wohnung nicht verlassen konnten, wurde eine neue Regierung vereidigt, Angela Merkel mit Zapfenstreich verabschiedet, fegte einer der schlimmsten Tornados über den US-Bundesstaat Kentucky hinweg und Werder Bremen bekam einen neuen Trainer.
Am ersten Tag der neuen Freiheit ging ich mit den Kindern einen Weihnachtsbaum kaufen. Wie ich mich als Kind darauf immer gefreut hatte, mit meinem Vater über die Moorwiesen zu Bauer Otten zu laufen, um einen Tannenbaum auszusuchen. Nun standen wir am Klausener Platz in Berlin und musterten die Öko-Tannen.
„Ich freue mich so, dass sie immer noch so schön dunkelgrün sind wie früher“, sagte ich.
„Natürlich sind die grün. Ein Weihnachtsbaum ist immer grün“, erklärte mein Sohn.
„Ach, weißt du“, entgegnete ich, „selbstverständlich ist das nicht. Die Welt verändert sich so schnell, da rührt mich eine echte, grüne Tanne, die so aussieht wie in meiner Kindheit.“
Wenn man allein die letzten zwei Jahre betrachtet, dachte ich, was sich da alles verändert hat! Wenn man zum Beispiel zwei Jahre nichts von der Welt mitbekommen hätte, vielleicht aus einem Koma erwachen würde: Was würde man dann denken? Warum sitzen in den Klassenräumen in den Schulen maskierte Kinder, die sich dreimal die Woche Stäbchen in die Nase schieben? Warum sagen Menschen „Ich bin zweimal geimpft“, bevor sie sich umarmen? Was in Gottes Namen ist eine „Hospitalisierungsinzidenz“ oder ein „geboosterter“ Mensch? Warum soll man „Strafzinsen“ zahlen, wenn man der Bank sein Geld leiht? Warum werden deutsche Städte überflutet und Häuser weggerissen? Warum gibt es die AfD? Was ist „Gender-Awareness“? Und warum braucht man „Cyber-Gardening?“
Miran wollte eine ganz große Tanne, Lara eine kleinere. „Wir können ja eine mittelgroße nehmen“, schlug ich vor. Dass man eigentlich überhaupt keine Tanne kaufen sollte, weil vielleicht sogar eine abgeschlagene Öko-Tanne im Zusammenhang mit den Tornados und Überflutungen steht – das kann ich den Kindern ja nächstes Jahr Weihnachten erklären. Die Tanne stand erst einmal in der Badewanne zum Abtropfen und ich betrachtete sie wie ein mittelgroßes Wunder.
Ich habe ein Buch von Jacques Attali gelesen, einem der führenden globalen Denker, Mitbegründer des europäischen Programms Eureka, das sich der Entwicklung neuer Technologien widmet. Attali schreibt, dass Menschen 2200 winzige Biochips im Kopf haben werden, die eine enorme Rechenleistung haben und sich mit den herkömmlichen Nervenzellen organisch verbinden. Wir werden also Menschen auf der Sögestraße begegnen, die noch relativ normal aussehen, aber ein Wissen in sich tragen vom Umfang der Stadtbibliothek. Diese Biochips wird es geben.
Ähnliches denke ich auch manchmal, wenn ich die Menschen sehe, wie sie nur noch in die gläsernen Rechtecke in ihren Händen starren. WLAN wird wahrscheinlich bald aus unserem Bauchnabel kommen, ich könnte mir vorstellen, dass die Evolution das Passwort in der Nabelschnur erscheinen lässt. Irgendwann ging der Affe aufrecht und wurde Mensch, vielleicht werden wir in Zukunft einmal rechteckig wie ein Smartphone.
Im Prinzip sagt das auch dieser globale Denker. In der Kuppe des Zeigerfingers wird es auch Chips geben. Der Impfpass mit dem Nachweis von zehntausend Boosterungen, die Bahn-Card, die Miles-and-More-Karte, sämtliche Pin- und Sim-Nummern: alles in der Fingerkuppe. 2300 soll allerdings ein Virus die Biochips im Kopf befallen, und dann wird das gesamte Wissen der Bremer Stadtbibliothek in den Menschen zusammenstürzen, so als stürzten riesige Regale ein. Es wird Menschen geben, die nicht mehr unterscheiden können, ob sie zum Beispiel alles über Hitler wissen oder selbst Hitler sind.
Das alles ging mir durch den Kopf, als ich am Rand der Badewanne saß und wehmütig auf den Weihnachtsbaum sah – wie auf eine alte, ferne Zeit.