Manchmal treffe ich Freunde, die ich lange nicht mehr gesehen habe, und bevor sich mich umarmen, sagen sie: „Ich bin geboostert!“ Das passiert nun ganz oft. Zuerst ein Hallo, danach dieses Ausrichten des Kopfes nach der einen oder anderen Seite bei gleichzeitigem Ausbreiten der Arme und dann: „Ich bin geboostert!“ In einem meist sogar ziemlich rechtschaffenen Ton, so als wolle man sagen, dass bei dieser Begrüßung alles vorschriftsmäßig vonstatten gehe und dass ich nicht einfach fatalistisch den Falschen umarme, sondern den Richtigen, den Geboosterten.
Meist ist es auch eine eher etwas laschere Umarmung, so eine Art Abstandsumarmung. Dafür müssen die beiden Köpfe der sich Begrüßenden weit nach jeweils rechts und links gestreckt werden und noch genug Luft zwischen den Armen und dem Oberkörper des jeweils anderen gelassen werden. Die Arme der sich Begrüßenden bilden ein O. Von außen betrachtet sieht man also zwei Os, in jedem O einer der Freunde, deren Köpfe weit voneinander weg nach links und rechts gestreckt sind.
Schade, dass Loriot nicht mehr lebt, der hätte daraus was gemacht. Wenn ich Choreograf wäre, würde ich am Bremer Theater ein Ballett über Begrüßungen inszenieren. Früher und heute, weltweit. Altes Händeschütteln, Abklatschen, Bussis rechts, links, russische Brüderküsse etc. versus Ellenbogen, Fußinnenseiten, Faustgruß, asiatische Verbeugung und natürlich die Abstandsumarmung – so ein Ballett würde ich gerne sehen.
Ich glaube, unsere neuen Begrüßungen sehen von außen wie ein Evolutionsschritt aus. Auf jeden Fall würde man echt staunen, wenn man ein Jahr von der Welt irgendwie nichts mitbekommen hätte, und plötzlich begrüßen einen die Freunde so komisch und sagen „Ich bin geboostert.“
Was heißt das überhaupt? „Booster“ wird in der Raumfahrttechnik eine Hilfsrakete genannt, die beim Start verwendet wird. Booster nennt man auch in der Elektrotechnik einen Spannungsverstärker. Es gibt auch eine Booster-Schweißtechnik und das Booster-Karussell, es wird sogar von einer Bremer Firma vertrieben. Man kann bestimmt auf dem Bremer Freimarkt boostern, wenn man 2G plus ist. „Ich bin 2G plus, komm in meine Arme!“, könnte man auch vor der neuen Abstandsumarmung sagen, 2G plus ist knackiger. Nur 2G- oder gar 3G-Menschen sollte man aber laut Wissenschaft nicht umarmen. 2G plus geht, natürlich o-förmig.
Aber wie lange gilt man als geboostert und somit als 2G plus? Muss man bei einer Begrüßung den Booster-Termin nicht eigentlich gleich mit sagen? Und den Impfstoff? Einen Geimpften mit einer einzigen Johnson & Johnson-Impfung plus einer weiteren Auffrischungsimpfung zu umarmen, das würden Menschen in Bayern vielleicht gar nicht machen, zumindest lassen sie ihn nirgendwo hinein. Laut Bayern fehle da eine Impfung; in Bremen und Niedersachsen geht das. Allerdings kann man einen genesenen Niedersachsen nicht einfach so umarmen, ohne doppelte Impfung gilt er als nicht geboostert. In Bremen schon, eine genesene Bremerin umarme ich auch ohne doppelte Impfung gern, sie gilt als geboostert, allerdings nur, wenn sie nicht länger als drei Monate als genesen gilt.
Wer umarmt wen?
Kompliziert? Nö, nö, zur Not könnte ich ja zum Ballett noch ein Doku-Drama dazuschreiben, so nennt man Stücke mit ganz vielen Details und Erklärungen, ein Doku-Drama soll Halt bieten in der Verwirrung. Oder ich schreibe eine Farce? Eine Farce hat eher absurde, überspitzte Handlungen.
Würde ich eigentlich eine gänzlich Ungeimpfte und Nicht-Genesene umarmen, wenn sie meine Frau oder Freundin wäre? Ich glaube schon, die Liebe ist doch letztlich etwas stärker, aber es soll Menschen geben, die bei dem Thema genauso irre sind wie umgekehrt die militanten Impfgegner. Ich kenne so ein Paar. Er ist aus Überzeugung ungeimpft, sie ist doppelt geimpft und geboostert; er ist in bestimmten Foren unterwegs, sie schaut „Anne Will“. Sie wollen sich nun trennen.