Zwischen Ihrem ersten Roman und dem neuen liegen elf Jahre. Warum so lange?
Moritz Rinke: Ich hatte mich 2014 schon mit einem der zentralen Themen des neuen Romans beschäftigt, aber dann brach der Krieg in Syrien aus, und die große Flüchtlingswelle setzte ein. Meine Geschichte hatte so einen Flüchtling als Protagonisten, allerdings aus Afrika. Doch nun waren die Medien stark vom Fluchtthema geprägt und es fühlte sich plötzlich an, ich würde mit dem Buch nur darauf reagieren. So wie jetzt plötzlich alle Gender-Romane schreiben. Dann kamen bei mir auch noch Theaterstücke – und natürlich die Geburt meines Sohnes. Das erste Kind bringt ja immer eine Revolution in das eigene Leben, plötzlich war alles anders. Und dann kam sogar noch meine Tochter.
Erscheint Ihr Buch, das auch eine Hommage an Lionel Messi und den FC Barcelona ist, jetzt nicht doch zur Unzeit, wo Messi gerade nach Paris gewechselt ist?
Ja, wenn man es so nimmt, ist es gleich dreifach eine Unzeit: vor allem wegen der Pandemie, der Unwägbarkeit von Lesungen und wohl auch wegen dieser Gender-Hysterie auf dem Buchmarkt. Gender ist natürlich ein wichtiges Thema, aber man kann es, offen gestanden, auch übertreiben. In den Universitäten, in den Kulturbetrieben und manchen Medien herrschen eine beflissene Angepasstheit und eine Spießigkeit, die wirklich erstaunlich ist. Dass dann, drittens, auch noch Messi Barcelona verlässt, was ja immer unvorstellbar war, gerade wenn ich ihm ein Denkmal setze, hat mich anfangs auch empört. Ich hatte kurz überlegt, ihn anzurufen, ich hatte aber seine Nummer nicht parat.
Die Perspektive Ihrer Hauptfigur hat sich analog zu Ihrer eigenen Biografie verschoben: An die Stelle Pauls, als der erwachsene Sohn aus „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“, tritt nun Pedro in seiner Vaterrolle.
Ja, obwohl sich beide Figuren sehr nahe sind, wie sie so durch die Welt fallen. Pedro ist natürlich durch seine Verantwortung, die er zu übernehmen bereit ist, der reifere von beiden.
Aber die Geschichte des Postboten Pedro ist natürlich nicht der einzige Erzählstrang. Und trotzdem haben doch die beiden anderen Männer, Tenaro und Amado, viel mit ihm gemein?
Ja, der Roman erzählt von Verlusten und am Ende natürlich von ganz großem Gewinn durch Freundschaft und Liebe, die im wahrsten Sinne Vulkane zum Ausbrechen bringt. Aber zunächst ist da Tenaro, der arbeitslose Fischer, der eigentlich immer vom schnellen Reichtum träumt und auch vom globalen Tourismus der Urlaubsinsel profitieren will. Und dann ist da der afrikanische Flüchtling Amado. Er hat, sobald er Europa erreicht, ebenso seine Würde und seine eigentliche Identität verloren und plant eigentlich die Flucht zurück in ein Camp in den marokkanischen Bergen, wo er vorher schon an einer funktionierenden Struktur des Zusammenlebens aller Flüchtlinge gearbeitet hatte. Wir haben also einen Postboten ohne Post, einen Fischer ohne Fische und einen Flüchtling ohne Papiere. Diese drei Stränge verweben sich immer mehr.
Und es ist auch ein Vater-Sohn-Roman. Spielen da eigene Erfahrungen eine Rolle?
Ja, diese unendliche Liebe und Fürsorge, die man auf einmal in sich entdeckt und von der man früher gar nicht geglaubt hat, dass man sie in sich tragen würde – von dieser schönen Erfahrung habe ich profitiert. In dem Roman ist es ja so, dass die Beziehung zum Sohn die Außenwelt des Berufs komplett ersetzt; dass Pedro in der Hingabe an seinen Sohn erst den Wert des Lebens erkennt. So ist es auch ein Buch über Zärtlichkeit geworden.
Es gibt zwischen beiden Büchern einen kleinen inhaltlichen Link – der Postbote Pedro verschickte immer die Pakete mit Salat von Pauls Mutter nach Berlin. Sind beide Romane auch ein Stück Heimatliteratur?
Ja, der Worpswede-Roman auf jeden Fall. Lanzarote ist für mich auch so etwas wie Heimat geworden, weil ich dort ein Haus gebaut habe. Der Ort ist aber für mich vor allem wegen seiner Lage so interessant: Die Westküste von Afrika ist 120 Kilometer entfernt, man spürt jeden Tag den Sahara-Wind, manchmal kommt auch die Calima, dann kommt sogar der Sand. Die politische Geografie der Insel ist natürlich markant. Ab 2006 sind die Kanaren eine der größten und auch traurigsten Flüchtlingsrouten nach Europa.
Hinzu kommt der Tourismus, das ist ja eine komplizierte Situation, wenn Urlauber auf Flüchtlinge treffen?
Ja, es kommen Menschen auf die Insel, die einfach nur ihren Spaß haben wollen, und die Inseln richten sich danach aus und verkaufen dafür leider auch ihre Seele, und die eigentlichen Berufe gehen verloren, das erzählt die Tenaro-Geschichte. Und dann der Umgang mit Flucht, dem Verschwindenlassen von Booten und Flüchtlingen, damit die heile Welt für die Touristen bestehen bleibt.
Beide Romane sind sehr eng an der jeweiligen Landschaft entlang erzählt. Könnten die Geschichten überhaupt irgendwo anders spielen?
Nein, Lanzarote kommt ja als ein sehr besonderer Ort in dem Buch vor, teilweise auch als magischer. Der Roman hat Züge eines magischen Realismus, und das ist natürlich dieser Insel geschuldet. Aber Lanzarote ist eben aufgrund seiner geopolitischen Lage auch ein guter Erzählort für diese Welt.
Sie haben unlängst in einem Interview gesagt, dass Sie Ihre Geschichten nie dort schreiben können, wo sie spielen. Wird es, wenn Sie lang genug weg sind, dann auch mal einen Berlin- oder einen Istanbul-Roman von Ihnen geben?
Wenn man der Idee folgt, dass man Orte, die man ganz besonders gut kennt, irgendwann zu Romanorten macht, dann müsste das vielleicht bald so sein. Schauplätze wie Istanbul oder Antalya würden sehr politische Romane ergeben. Berlin würde wahrscheinlich eine Spanne von mehr als 20 Jahren umfassen müssen. Das müsste ich dann wohl auf Lanzarote schreiben. Ich habe das ganz besonders beim Worpswede-Roman gemerkt: Je näher ich dem Ort kam, umso mehr ging ich in die Konkretisierung und nicht mehr in die Fiktion. Aber die Geschichte muss sich irgendwann von den örtlichen Gegebenheiten emanzipieren. Das Leben in einem Buch entsteht ja durch die Verdichtung und nicht nur durch die Nachahmung von Wirklichkeit. Andererseits sind die Recherche und das Eintauchen in das, was war, auch sehr wichtig. Ich hätte ja keines der Bücher schreiben können ohne vorher lange über diese Orte zu forschen. Recherche ist so eine Art Trampolin, mit dem man hoch springen kann. Im Flug muss es sich dann verwandeln. Im Flug erschreibt man sich dann die eigenen Orte.