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Rinkes Rauten Spinnt denn die EU-Kommission?

Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke schaut in "Rinkes Rauten" jeden Sonntag im WESER-KURIER auf die Welt. Thema muss nicht immer der SV Werder sein, Raute hin oder her.
09.01.2022, 05:00 Uhr
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Von Moritz Rinke

Die erste Demo, an der ich als Kind teilgenommen habe, war entweder in Gorleben oder Brokdorf. Ich weiß nicht mehr, ob ich gegen das atomare Entsorgungslager protestierte und vielleicht am berühmten Gorleben-Treck 1979 teilnahm oder bei einer der Demos gegen den Bau des Kernkraftwerks in Brokdorf mitprotestierte. Ich kann mich nur erinnern, dass ich mit vielen anderen ewig lang durch flache Landschaften lief. Und dabei dieses seltsame Gefühl hatte, etwas Verbotenes zu tun, weil uns die Polizisten mit Helmen und Schlagstöcken beobachteten. Andererseits lief ich ja mit meinen Eltern, also musste es irgendwie auch richtig sein. Außerdem hatten wir alle diese lachenden roten Sonnen an den Jacken stecken, eine dieser schönen Sonnen sah ich noch kürzlich im Setzkasten von Deborah, einer Freundin in Worpswede.

Meine Eltern und die meiner Spielfreunde waren alle Atomkraftgegner, die Grüne Liste Umweltschutz (GLU), ein Vorläufer der Grünen-Partei in Niedersachsen, erzielte 1978 aus dem Stand 3,9 Prozent, in Worpswede war das Ergebnis wahrscheinlich noch besser. Demos in Gorleben oder Brokdorf waren im Dorf meiner Kindheit gewissermaßen Pflicht (oder Erziehungsprogramm). Was ich noch mit der Antiatomkraftbewegung verbinde, sind diese schmerzenden Beine vom kilometerlangen Laufen. Manchmal war ich auch wütend auf die rote Sonne, die alle mit sich herumtrugen, offenbar hatte sie uns ja diese Endlosmärsche eingebrockt.

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Als nun die EU-Kommission den Atomstrom als bedingt nachhaltig und als grün einstufte, hatte ich das Gefühl, ich würde in meiner Erinnerung all die Kilometer noch einmal laufen müssen, aber rückwärts! Spinnt denn die EU-Kommission? – dachte ich. Ich laufe doch nicht endlos durch norddeutsche Flachebenen gegen Atomkraft und dann stuft eine Kommission plötzlich Atomkraft als grün ein?

Durch die Entscheidung der EU-Kommission laufen jetzt überhaupt alle Demonstranten von damals in meiner Vorstellung rückwärts, so als würden ihre Protestmärsche im Nachhinein durch grüne Atomkraftwerke als völlig sinnlos annulliert und rückgängig gemacht werden.

Ich habe gerade die Filmkomödie „Don’t look up“ gesehen, in der ein auf die Erde zurasender Komet von der Regierung geleugnet wird, weil schlechte Nachrichten Wählerstimmen kosten. Ich habe sofort an die Idiotie einer Kommission gedacht, die sich für ein paar Jahrzehnte Stromproduktion weiteren jahrtausendelang strahlenden Müll schaffen will, und das nach Tschernobyl und Fukushima. Andererseits: Wir alle brauchen viel Strom. Auch die, die in meiner Kindheit mitdemonstrierten, brauchen viel mehr Strom als damals. Und wenn man sich heute die Bilder der Bauerndemos in Gorleben anschaut, dann liegt der CO2-Anteil der ganzen Traktoren am Klimawandel in Niedersachsen bestimmt bei gefühlten 3,9 Prozent.

Das Jahr beginnt also verwirrend. Laut einer Allensbach-Umfrage finden nur noch 56 Prozent den Atomausstieg richtig. Es gibt also immer mehr Befürworter der Kernenergie. Und die Argumente werden offenbar immer fanatischer: „Wenn du Nuklearenergie nicht unterstützt, bist du schuld an Treibhausgasen“, „Wer von Kernenergie nicht reden will, soll vom Klimawandel schweigen“. Aber stimmt denn das? Emissionsfreie Atomkraft? Was passiert beim Betrieb von Endlagern? Und was kostet das? Brauchen wir das Geld nicht für Investitionen in wirklich grüne Energien? Und hat die Atomenergie nicht selbst ein Problem mit dem Klimawandel und dem Extremwetter (Kühlung der Reaktoren?)?

„Quatsch“, erklärte mir ein Journalist. „Die wahnsinnigen Windräder, die schädigen das Klima. Nach der Laufzeit bleiben Beton- und Metallmüll. Glaubst du denn, diese Beseitigung ist emissionsfrei? Millionen von Vögeln und Milliarden von Insekten werden ermordet. Wer von Kernenergie nicht reden will, ermordet Vögel.“ Bestimmt wird die neue Atomdebatte die Impfdebatte irgendwann ablösen.

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