„Ach, Isolde!“ Mehr als nur ein bisschen Wehmut und Trauer klingt mit, wenn Gitta Jantzen an das Huhn zurückdenkt. An ein ganz besonderes Huhn, das nämlich mehr als zwei Jahre lang fast täglich auf einen Besuch bei der Bokelerin vorbei kam. Es entstand eine Art der Freundschaft, wie sie zwischen Tier und Mensch entstehen kann, wenn sie sich mit allen Sinnen wahrnehmen. Viele kleine Geschichten ranken sich um Isolde, die an der beschaulichen Seebeckstraße lebte – und auf eben jener Straße ein jähes Ende fand, als sie überfahren wurde.

Als die Welt noch in Ordnung war: Huhn Isolde zu Besuch bei Gitta Jantzen und ihrer Enkeltochter.
„Eines Tages kam sie durch meinen Garten marschiert, pickte hier und da an Gräsern und Kräuter und guckte dann durch die Terrassentür“, erinnert sich Gitta Jantzen an ihr erstes Zusammentreffen mit ihrer Nachbarin. Es war Zuneigung auf den ersten Blick, und die 89-jährige Bokelerin bestärkte die Gastfreundschaft mit ein paar ausgestreuten Haferflocken, die gerne aufgepickt wurden. So war der Grundstein für eine lange Freundschaft gelegt.
Isolde hatte ihren eigenen Kopf
Isolde war kein wild lebendes Huhn, sondern ein sogenanntes Nutztier, das sein Zuhause auf der anderen Straßenseite inmitten einer zehnköpfigen Hühnerschar hatte. Hier erfreute sich eine junge Familie an dem Federvieh und den täglich frischen Eiern. Katharina, Lisa, Evelyn, Kira, Isolde und noch mehr – sie alle hatten einen Namen und auch Tom, ein stolzer Hahn, gehört dazu. Eine gepflegte Hühnerschar mit vermutlich glücklichen Hühnern. Nur Isolde, die war ein bisschen anders. Während sich alle Hühner abends auf die Sitzstangen im Stall setzten und sich so sicher fühlten, zog Isolde einen Übernachtungsplatz im Geäst des Hofbaumes vor.

Plakat erinnern in Bokel an Isolde.
So machte sie sich im Sommer auch schon mal in den frühen Morgenstunden auf den Weg zur Nachbarin. Tag für Tag, über zwei Jahre ging das so und hätte nach den Wünschen von Mensch und Huhn auch immer so weiter gehen können. Doch das Schicksal schlug zu, und die Idylle fand ein böses Ende. War es eine Unaufmerksamkeit von Isolde, war sie im schnellen Lauf auf die Straße gestürmt? War es eine Unaufmerksamkeit eines Autofahrers, der womöglich zu schnell in der Tempo-30-Zone unterwegs war? Zeugen gab es nicht, als das Unglück passierte. Als zwei Schulkinder bei einem Nachbarn klingelten und meldeten, dass ein totes Huhn auf der Straße liege, war das Unglück bereits geschehen. Der Verursacher war über alle Berge.
Der tödliche Unfall von Isolde sprach sich schnell in der Nachbarschaft herum. Die Anwohner waren betrübt und erbost zugleich. Sie konnten es gut dulden, dass ein Huhn wie Isolde frei herum läuft, eine Straße überquert, im Baum schläft und einfach das macht, was ein Huhn als sinnvoll erachtet. Um zu zeigen, was sie fühlen und auch als Mahnung für mehr Rücksicht auf andere Lebewesen, fertigten die Anwohner ein Plakat an. Darauf sind Fotos von dem gesperberten Huhn: „Tatort“ mit der toten Isolde drauf und „Wohnort“ mit dem Huhn auf Hausbesuch.
„Es war ja nur ein Huhn“, diese Argumentation wollen sie nicht gelten lassen. „Wir wissen, dass täglich Millionen der Artgenossen weder die Sonne sehen noch über die Erde laufen dürfen und gerade mal 40 Tage alt werden, bevor sie als Brathähnchen auf dem Grill landen, oder die ein erbärmliches Leben als Eierproduzent fristen müssen und nach einem Jahr körperlich ausgelaugt und zu Tode erschöpft sind“, sagt Anwohner Rainer Strüter, der ebenfalls ein paar Hühner hält. Das Schicksal von Isolde hat auch die Kinder aus der Nachbarschaft bewegt. Damit so ein Unglück nicht wieder passiert, malten sie mit Kreide einen Übergang auf die Straße. Für Isolde kommt er zu spät, aber er soll einen sichereren Weg für alle schaffen, die mal eben von der einen Straßenseite zur anderen Seite rüber wollen.