Frau Lück, was ist der Unterschied zwischen Sex und Sexualität?
Sibylle Lück: Jeder Mensch ist ein sexuelles Wesen, weil er die Bedürfnisse nach Sexualität, vielleicht auch nicht immer gleich nach einem Geschlechtsakt, hat, sondern eher nach Sinnlichkeit, Geborgenheit und dem Wissen, schön zu sein, auch wenn man vielleicht keine attraktiven Körperformen hat. Das Wort Sex wird leider oft abwertend benutzt. Wir machen Sex, wir haben Sex, es ist ein Akt. Sexualität ist eher die Umschreibung des Bedürfnisses eines Menschen nach Berührung, nach Schönheit und Attraktivität, aber auch Hingabe. Ich schließe da auch Menschen ein, die beeinträchtigt sind. Wer will sagen, dass sie nicht das Bedürfnis nach einer liebevollen Berührung haben bis zu einem sexuellen Höhepunkt, der eine totale Befriedigung darstellt? Es gibt auch Menschen, die das über Gewalt erfahren. Da trennen sich die Wege, aber auch sie brauchen Menschen, die ihnen wieder zu einer Normalität in diesem Bereich helfen, damit es wieder etwas Wertvolles und Erfüllendes wird.

Sibylle Lück
Weshalb ist Sexualität, gerade unter älteren Menschen, ein Tabuthema?
Das Tabuthema wird von der Außenwelt gemacht, dass man dem alten Menschen keine Sinnlichkeit mehr zugesteht. Das alte Altersbild prägt die Menschen noch sehr – Acker, Herd, Kriegserfahrungen. Der hochbetagte Mensch hat heute eine Menge zu erzählen. Aber da hat das Thema Geliebt werden und Sexualität erleben einen anderen Stellenwert als bei jüngeren Alten. Altern ist heute ein anderer Begriff. Ich glaube, dass sich die alten Menschen nach Nähe und achtsamen Berührungen sehnen, aber auch einen Rahmen brauchen, in dem sie das selbst auch leben können. Es geht darum, wie wir das dem alten Menschen zugestehen, aber auch dass man merkt, dass der Wunsch nach Liebe viel einschließt – auch für Menschen mit Demenz. Berührt werden, aber auch berühren zu dürfen. Menschen, die mit alten Menschen arbeiten, müssen bereit sein, Hände auch einmal selbst erleben zu dürfen, ohne gleich diesen Menschen zu be- und entwerten. Wichtig ist, persönliche Grenzen zu setzen, für beide Seiten.
Wie lässt sich die Sinnlichkeit ausleben?
Zu Liebe gehört mehr als der Geschlechtsakt, sondern eher eine Atmosphäre, eine Stimmung zu schaffen, beispielsweise eine Kerze anzuzünden oder ein Liebesgedicht zu lesen.
Wie wichtig ist Intimität gerade im Alter, wenn etwa die Partnerin oder der Partner schon verstorben ist?
Es hat viel mit Lebenssinn zu tun, welche Bedeutung man im Leben hat, und wie sich der Mensch in seiner Identität erlebt. Viele ältere Menschen sind nicht so erzogen, dass man offen über Bedürfnisse spricht. Ein anderer Aspekt ist, dass wir eine neue Offenheit in der Kommunikation mit alten Menschen brauchen. Zum Beispiel, dass in Pflegeeinrichtungen Dienste angeboten werden, die aber nicht gleich Prostitution sind, aber ein Angebot, das man über Körperarbeit, Küsse, Berührungen oder Streicheln in Intimzonen bietet. Das bieten zum Beispiel Sexualbegleiter an. So vermittelt man für einen Moment das Gefühl einer Leichtigkeit. Es gibt doch nichts Schöneres, wenn man so etwas als alter Mensch noch fühlen darf, auch wenn man sich vielleicht nicht mehr richtig bewegen kann, wenn man zum Beispiel einen Schlaganfall hatte.
Wie verändert sich das Empfinden für Sexualität im Laufe des Lebens, wenn der Körper nicht mehr so mitmacht, wie man es gerne hätte?
Allein Medikamente verändern das Lustgefühl, aber auch körperliche Beeinträchtigungen. Da muss man lernen, was Berührungen am Körper auslösen, vielleicht auch über geführte Bewegungen. Jeder Mensch hat private und öffentliche Zonen. Wenn ich die Hand eines Menschen in den Privatbereich führe, erlebt er sich über Eigenbewegung mit meiner Handlenkung noch einmal etwas anders. Das heißt aber nicht, dass ich bewusst provozieren will, dass er Lustgefühle entwickelt. Das kommt manchmal von allein, indem man sich gut behandelt fühlt. Eine gute Pflegekraft muss wissen, dass das passieren kann. Ich muss als Akteur von außen lernen, mit dem Menschen dann achtsam umzugehen.
Es kann aber auch sein, dass eine Pflegekraft von einem alten, möglicherweise dementen, Menschen berührt wird und das nicht möchte. Streng genommen ist das ein Übergriff. Wie sollten Pflegekräfte reagieren?
Da gibt es zwei Felder: einmal die Pflegekraft, die das gelernt hat und bei der im Team besprochen wird, dass das passieren kann und vorher gelernt wird, wie damit zu kommunizieren und umzugehen ist. Wir haben Pflegekräfte, die das in ihrer eigenen Erziehung nie gelernt haben und dann nicht professionell, sondern emotional reagieren und Leute beschimpfen, wegstoßen oder auf Hände hauen. Das ist dann auch oft nicht böse gemeint. Ich glaube aber, das sind Erfahrungen, bei denen man überlegen sollte, ob man selbst in dieser Art von Schwerstpflege richtig ist. Ich denke, dass eine Pflegekraft auch dann respektvoll Distanz aufbaut, wenn jemand zugreift. Dann darf man auch einmal klare Grenzen aufzeigen, sagen, dass man das nicht möchte, und auch einen deutlicheren Ton nehmen. Oder man merkt, dass der andere in Not geraten ist und etwas sucht, weil er vielleicht nicht richtig sieht oder hört. Das muss man unterscheiden können. Das kann man aber auch lernen.
Wie kann man als alter Mensch Selbstbewusstsein aufbauen, wenn man sich möglicherweise gar nicht mehr schön fühlt?
Das hat viel mit dem Umfeld zu tun, ob der Mensch ernstgenommen wird. Ein Schlaganfallpatient, der vielleicht halbseitig gelähmt ist, fühlt sich nicht mehr schön. Ich kann ihm aber trotzdem in einer liebevollen Art und Weise eines respektvollen Umgangs ein gutes Gefühl vermitteln, dass er sich nicht immer mehr zurückzieht. Ich kann ihn aus dem Bett holen, aufrecht hinsetzen, Blickkontakt halten, vielleicht seine Hand führen und das bisschen Haar, das er noch hat, gut in Form bringen. Das gilt für Männer wie Frauen. Ich kann auf einen schönen Duft, eine liebevolle Einreibung, auf Kleidung und Kosmetik Wert legen. Alte Menschen haben ein Recht darauf, zum Beispiel nicht nur den ganzen Tag das Nachthemd zu tragen. Vielleicht ist es auch ein schönes, altes Liebeslied, bei dem sich die Eltern kennengelernt haben. So kann man ihnen einen Wert im Leben über Erinnerungen verschaffen.
Ist das dann die sogenannte basale Stimulation?
Richtig. Basale Stimulation heißt, einen Zugang zu einem Menschen zu finden. Es ist ein Konzept mit pädagogischem, pflegerischem und therapeutischem Ansatz. Dazu nutzen wir alle Sinne des Körpers sowie unter anderem die Biografie der Menschen. Wir schaffen eine Atmosphäre über die Sinne des Menschen und dazu gehört auch mal die Sinnlichkeit. Der alternde Mensch soll sich über seinen Körper als wertvoll, ganzheitlich und auch als liebenswertes Wesen empfinden. Das Ziel ist, eine gute Lebensqualität für alte Menschen zu schaffen, und da spielt Sinnlichkeit und Sexualität eine große Rolle.
Wie hoch ist das Risiko sexuell übertragbarer Krankheiten im Alter?
Darüber würde man eher sprechen, wenn es vorwiegend um jüngere, chronisch Kranke geht, oder wenn alte Menschen jüngere Partner haben, bei denen es dann eher um Selbstbefriedigung, aber auch manchmal um mehr körperliche Aktivitäten geht. Wenn es körperlich machbar ist, kann man Menschen auch helfen, sich selbst zu berühren. Aber das stößt schon vielen Pflegekräften zurecht auf. Man muss Menschen haben, die eine offene, ehrliche Einstellung dazu haben.
Welche Botschaft möchten Sie bei Ihrem Vortrag in Leeste vermitteln?
Generell sollte man älteren Menschen Sinnlichkeit und Sexualität zugestehen. Alle Menschen, die mit alten Menschen arbeiten, brauchen eine Offenheit für das Thema. Ein älterer Mensch zehrt alleine davon, wenn er einmal die Hand berührt bekommt. Da fängt die Sinnlichkeit schon an. Das ist seit Corona deutlich zu kurz gekommen und hat uns alle sehr nachdenklich gemacht. Daher: Mehr Mut, Offenheit und eine Portion Leichtigkeit für das liebevolle Leben mit unseren alternden Menschen.
Das Interview führte Wolfgang Sembritzki.