Frau Helms, wo liegt der Unterschied zwischen Demenz und Vergesslichkeit?
Lilja Helms: Vergesslichkeit ist erst einmal nur ein Symptom. Eine Demenz hingegen ist eine Erkrankung, die von einem Arzt diagnostiziert wurde. Eine Demenz ist allerdings nicht nur Vergesslichkeit, sondern beinhaltet viel mehr Symptome als nur das reine Vergessen. Dennoch wird es als Erstes mit einer Demenz in Verbindung gebracht.

Lilja Helms
Welche weiteren Symptome gibt es?
Als Betroffener kommt man vermehrt im Alltag an seine Grenzen. Das heißt, man kommt durcheinander mit Terminabsprachen, mit Regelmäßigkeiten und Routinen, die früher total normal waren. Man kann oft komplexere Sachverhalte nicht mehr richtig verstehen. Betroffene fangen an, sich aufgrund dieser ersten Defizite zurückzuziehen, damit das Umfeld diese nicht bemerkt. Soziale Isolation ist ein ganz typisches Symptom für eine frühe Phase der Demenz. Wenn Menschen sich schlecht konzentrieren können, nach Worten suchen, Probleme mit Bankgeschäften oder komplexen Schriftstücken umzugehen – das alles können erste Hinweise auf eine Demenz sein. Umso wichtiger ist eine vollständige Diagnostik beim Facharzt.
Wie läuft das ab?
Der Hausarzt ist erster Ansprechpartner, wird aber erst aktiv werden, wenn die Symptome und Probleme länger als sechs Monate bestehen. Jeder Mensch hat in seinem Leben schlechte Phasen. Wenn ich etwa kurz vor dem Urlaub stehe, bin ich erschöpft, unkonzentriert, müde, eben urlaubsreif und begebe mich nicht auf den Weg einer Demenz. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Wenn der regelmäßige, normale Alltag vermehrt gestört ist, fängt der Hausarzt an, bestimmte diagnostische Schritte zu gehen.
Welche sind das?
Der Hausarzt untersucht erst einmal den Körper. Er untersucht das Blut auf Mangelerscheinungen, checkt das Herz oder schaut nach anderen Erkrankungen, die sich genauso zeigen können, wie eine beginnende Demenz, aber behandelbar wären. Eine Demenzdiagnose ist in der Regel eine Verlaufs- und Ausschlussdiagnose. Der Hausarzt verweist oft an den Neurologen, der weitere Untersuchungen durchführt oder veranlasst. Unter anderem wird er seinen Patienten ins MRT oder CT schicken, um Bilder vom Gehirn erstellen zulassen. Gab es in der Vergangenheit bereits kleinere Schlaganfälle, andere Besonderheiten, oder ist das Gehirn bereits etwas geschrumpft? Unter Umständen wird auch Hirnwasser in Form einer Lumbalpunktion entnommen. Nach Abschluss der Untersuchungen kann sich der Hinweis auf eine bestimmte Demenzform verdichten. Vom ersten Gespräch bis zur handfesten Diagnose können bis zu zwölf Monate vergehen. Es gibt in eine Leitlinie, in der genau steht, wie Demenz zu diagnostizieren und auch zu behandeln ist. Wir wünschen uns, dass Ärzte auch vermehrt die Familien in die Diagnostik miteinbeziehen und diese auch zu den vielfältigen Symptomen befragen.
Das klingt ziemlich zeitaufwendig. Und die Krankheit schreitet gleichzeitig fort.
Ja! Aber es kann auch sein, dass bei Erstuntersuchungen etwas ganz anderes entdeckt wird. Eine Depression im Alter zeigt sich vom Symptom her wie eine beginnende Demenz, wäre jedoch behandelbar. Die Demenzdiagnostik ist auch ein Detektivspiel!
Weshalb ist das Thema Demenz so wenig in der Öffentlichkeit? Sind die Menschen früher nicht alt genug geworden, um die Krankheit zu entwickeln?
Die Leute gehen früher zum Arzt. In Deutschland leben nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Durchschnittlich treten Tag für Tag etwa 900 Neuerkrankungen auf. Ein großer Teil der Erkrankten ist 80 Jahre alt und älter. Aber es gibt auch Menschen, die 50 sind und eine frühe Demenzform bekommen. Es gibt Betroffene, die im Job eine Abmahnung bekommen, weil sie auf der Arbeit nicht mehr performen, obwohl ein klassischer, aber eben früher Demenzprozess losgetreten wurde. Diese Personen brauchen dann aber ganz andere Hilfen als eine Abmahnung vom Arbeitgeber. Wir müssen lernen, dass Demenzerkrankungen eben nicht nur die Hochaltrigen betreffen. Gerade die Jung-Betroffenen zwischen 50 und 70 Jahren haben einen anderen Wunsch nach genauer Diagnostik, Behandlung, Therapie und Förderung.
Demenz ist also kein ein spezifisches Problem älterer Menschen?
Wir erleben immer häufiger, dass wir jüngere Menschen mit Demenz beraten. Junge Betroffene haben teilweise noch Eltern, die manchmal selbst pflegebedürftig sind, und Kinder, die ihre Eltern noch brauchen. Für diese Familien ist die Diagnose wirklich eine enorme Herausforderung.
Welche Arten von Demenz gibt es?
Demenz ist der Oberbegriff. Die häufigste Form ist die Alzheimer-Demenz mit ungefähr 60 Prozent. Es gibt auch die vaskuläre Demenz, die aufgrund von Gefäßerkrankungen auftritt, wenn man etwa jahrelang hohen Blutdruck oder bereits Schlaganfälle hatte. Die Alzheimer- und die vaskuläre Demenz sind die häufigsten Formen. Darunter gibt es auch Mischformen. Diese sind nicht selten. Dann gibt es noch die frontotemporale Demenz (FTD), diese spielt sich im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns ab. Bei fast allen Erkrankten fallen zu Beginn Veränderungen der Persönlichkeit und des zwischenmenschlichen Verhaltens auf. Dazu zählen insbesondere Teilnahmslosigkeit, aber auch Reizbarkeit, Taktlosigkeit und Enthemmung. Oft zeigen sich bei dieser Form auch Sprachstörungen, vor allem Wortfindungs- und Benennstörungen. Von der FTD Betroffene verändern sich stark in ihrer Persönlichkeit, werden oft distanzlos. Menschen mit dieser besonderen Demenz-Form sind deswegen schwierig in Betreuungs- und Pflegesettings aufzufangen, da sie in der Regel herausforderndes Verhalten zeigen. Und es gibt eine Demenzform, die dem Parkinson sehr ähnlich ist, die Lewy-Körperchen-Demenz. Diese Form ist oft mit Halluzinationen, mit einer großen Sturzneigung, motorischer Muskelsteifigkeit und Zittern verbunden.
Wenn man die Diagnose bekommt, welche Schritte sollte man direkt einleiten? Irgendwann ist man ja nicht mehr geschäftsfähig.
Viele denken, dass man etwa nach der Diagnose nicht mehr Autofahren darf. Das stimmt so pauschal nicht! Der Einzelfall ist immer mit dem Arzt zu bewerten und zu besprechen. Man sollte natürlich Vorsorge treffen. Ich sollte mir überlegen, wer für mich Entscheidungen treffen soll, wenn ich sie nicht mehr treffen kann. Ich sollte mich deswegen zeitnah nach der Diagnose um eine Vorsorgevollmacht kümmern. Der zweite Tipp ist: leben. Und zwar ab sofort. Nicht verkriechen, nicht isolieren, nicht vor Scham im Haus bleiben, proaktiv den Freundeskreis involvieren. Mit dem Umfeld sprechen, offen die Defizite auf den Tisch legen und sagen, was man sich selber wünscht, gerade, wenn man im frühen Stadium ist. Da zählt wirklich jeder Monat. Rausgehen, etwas Neues ausprobieren und was auf keinen Fall weniger werden darf, ist der Kontakt mit Freunden.
Wie ist Alzheimer-Demenz therapier- oder heilbar?
Es gibt drei Möglichkeiten. Es gibt die Behandlung der Ursache mit sogenannten Antidementiva. Diese Medikamente können eine Alzheimer-Demenz nicht heilen, haben aber die Zielsetzung, den Abbauprozess zu entschleunigen. Die Alzheimer-Demenz soll damit auf der Autobahn nicht mehr schnell mit dem Porsche fahren, sondern langsamer mit dem Fiat 500. Dann gibt es die Möglichkeit, die demenz-typischen Symptome wie Angst oder motorische Unruhe zu behandeln. Viel wichtiger ist aber die nichtmedikamentöse Behandlung: Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, Musik- und tiergestützte Therapie. Ich finde es so sinnhaft, Menschen mit Demenz in dem zu schulen und das zu erhalten, was sie an Ressourcen noch haben. Der vierte Baustein ist ein gut informiertes privates Netzwerk, das den Angehörigen so nimmt, wie er ist. Das ist nicht zu unterschätzen, wenn die Familie mit ihm richtig kommuniziert, wenn die Familie ihn richtig fördert, ohne ihn dabei zu überfordern.
Wie kommuniziert man richtig mit dementen Menschen?
Man sollte mit ihnen an ihrer Leistung orientiert kommunizieren. Wenn ich weiß, dass mein Vater sich schlecht konzentrieren kann, nur noch in kurzen Sätzen antwortet, ist es nicht richtig, dass ich ihn vorher zehn Minuten zuschwalle. Wichtig ist es dennoch, im Gespräch zu bleiben, aber eben angepasst. Nicht aufzuhören zu sprechen. Wichtig ist auch, auf Ironie zu verzichten. Das ist das Erste, was verloren geht. Auch wenn man einen Menschen mit Demenz nicht korrigiert, wird man merken, dass die Beziehung zu ihm wieder besser wird, weil er nicht in die Abwehrhaltung geht.
Das ist für Angehörige nicht immer leicht.
Das hört sich immer so einfach und therapeutisch an. Die Realität sieht häufig anders aus. Wir sind nicht 24/7 zu Hause und haben nicht die Belastung, die ein Angehöriger hat. Aber der Angehörige wird merken, wenn er diese Regel, einfach mal nicht zu korrigieren, hier und da beherzt, dass das schon Kraft gibt und Spannung aus der Kommunikation nimmt.
Wie kann man Angehörige am besten entlasten?
Wir haben jeden Monat drei Selbsthilfegruppen, zwei für Angehörige von Menschen mit Demenz und eine für Angehörige von somatisch erkrankten Senioren. Es ist etwas anderes, als von uns als Beratern einen Tipp zu bekommen. Wenn der Tipp von anderen Angehörigen kommt, wird er immer nochmal anders auf- und angenommen. Zusätzlich sollte man auch Transparenz im Freundes- und Familienkreis schaffen und sagen, wenn man eine Auszeit oder Hilfe braucht. Man kann auf Dauer die Pflege eines Menschen mit Demenz nicht alleine schaffen. Das ist eine Familien- und Freundesaufgabe und das darf man auch einfordern.
Das Interview führte Wolfgang Sembritzki.