Stuhr. Stuhr ist nicht gleich Stuhr. Denn damit kann sowohl die ganze Gemeinde inklusive der weiteren Ortsteile gemeint sein oder eben auch nur der Ortsteil Stuhr. Für letzteren benutzen viele Menschen auch die Bezeichnung Alt-Stuhr – ein Umstand, der Jürgen Timm übel aufstößt. Stuhr als Ort habe einen „altehrwürdigen Namen“, der nicht „aus einer gewissen Faulheit heraus verändert und verunstaltet werden“ dürfe. Dass er mit seinem Protest Alt-Stuhr aus dem hiesigen Sprachgebrauch wieder verbannen kann, scheint allerdings wenig aussichtsreich.
Die Bezeichnung Alt-Stuhr ist Jürgen Timm, der in Varrel wohnt und für die FDP dem Stuhrer Gemeinderat angehört, schon lange ein Dorn im Auge. Jüngster Anlass für seine Kritik ist die Berichterstattung über das städtebauliche Entwicklungskonzept für den Ortskern Stuhr, im Zuge derer der Begriff auch mehrfach verwendet wurde. „Stuhrer, erhebt Euch zum Protest“, fordert Timm daraufhin in einem Leserbrief sogar. Er verweist auf die Wortherkunft des Namens Stuhr. Dessen Ursprung sei schon in die Zeit des Weser-Urstromtals zurückzuverfolgen, „über einen Urfluss mit dem Namen Sture“, so Timm. „Der war wohl einmal stark und mächtig, wofür das Wort heute noch steht“, fügt er hinzu. Den Begriff Alt-Stuhr würde es hingegen gar nicht geben.
Zumindest nicht offiziell. Tatsache ist aber, dass sowohl die Gemeinde als auch der Ortsteil den selben Namen tragen. Die Gemeinde Stuhr ist 1974 im Rahmen der niedersächsischen Gebiets- und Gemeindereform aus den bis dahin selbstständigen Gemeinden Brinkum, Fahrenhorst, Groß Mackenstedt, Heiligenrode, Seckenhausen sowie Stuhr mit den Ortsteilen Moordeich und Varrel hervorgegangen. Genau genommen gibt es also sogar noch eine dritte Bedeutung hinter dem Namen Stuhr, nämlich für die alte Gemeinde Stuhr mit ihren drei Ortsteilen. Da diese frühere Gemeinde Stuhr 1974 zum Zeitpunkt des Zusammenschlusses die höchste Einwohnerzahl hatte, durfte sie dem neuen Gemeindegebiet ihren Namen geben.
So erklärt es die Gemeinde Stuhr auf ihrer Homepage, die dort an anderer Stelle aber durchaus auch die Bezeichnung Alt-Stuhr verwendet. Zum Beispiel beim Porträt der Kindertagesstätte Stuhr, diese „liegt im Ortsteil Alt-Stuhr“, heißt es. Auch ein Hinweisschild auf Gewerbebetriebe im Ort an der Stuhrer Landstraße trägt die Überschrift „Ortskern (Alt) Stuhr“. Für Bürgermeister Stephan Korte ist das auch kein Problem. „Es hat sich so eingebürgert“, sagt er. Im Fall der Kita ist der Zusatz „Alt“ sogar nützlich, weil er Verwechslungen mit anderen Stuhrer Kitas vorbeuge.
Ähnlich erklärt auch Pastor Robert Vetter von der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Stuhr, warum er häufig das „Alt“ bei Stuhr voranstellt. „Der Begriff ist hilfreich, damit die Leute sich orientieren können“, sagt er. Natürlich habe Jürgen Timm recht, dass Alt-Stuhr kein offizieller Begriff ist, aber die Sprache bahne sich eben ihren eigenen Weg. „Da kann man noch so sehr auf einem Dogma herumreiten, es nützt nichts“, so Vetter, der auch von „der normativen Kraft des Faktischen“ spricht.
Für Immobilienmakler Volker Twachtmann gehört Alt-Stuhr auch längst zum täglichen Sprachgebrauch. "Wir verwenden den Begriff seit über zehn Jahren", sagt Twachtmann, dessen Firma Hechler & Twachtmann übrigens auch direkt im Stuhrer Ortskern beziehungsweise in Alt-Stuhr ihren Sitz hat. Der Immobilienmakler hat festgestellt, dass es für Interessierte ohne den Zusatz Alt-Stuhr "völlig unklar" ist, wo sich ein Objekt befindet. Zur Unterscheidung, dass der Ortsteil und nicht die ganze Gemeinde gemeint ist, sei der Begriff Alt-Stuhr deshalb besser. "Auch wenn Herr Timm sicher recht hat", ergänzt Twachtmann, der zusammen mit dem Bauunternehmen Hollmann auch das jährliche Weinfest am Stuhrer Rathaus organisiert. Auch dafür werben die Veranstalter mit dem Begriff Alt-Stuhr – "aus denselben Gründen", sagt der Immobilienmakler.
Gleich in seinem Namen verankert hat den Begriff der Ernteverein Alt-Stuhr. „Wenn man sich örtlich abgrenzen möchte“, sagt Pressesprecher Peter Redent zur Erklärung. Außerdem gebe es den Begriff schon seit jeher. „Es gibt Formulierungen, die haben sich so eingebürgert“, findet Peter Redent, der sich selbst auch als Alt-Stuhrer bezeichnet.
Jürgen Timm hat für alle diese Argumente jedoch kein Verständnis. „Da sträuben sich mir die Nackenhaare“, sagt er auf Nachfrage. Es gebe nur einen Ortskern Stuhr, da brauche es kein zusätzliches „Alt“. Er verweist darauf, dass Stuhr – also der Ort Stuhr, nicht die ganze Gemeinde – im kommenden Jahr 850 Jahre alt wird. Das sei doch ein guter Anlass, endlich vom Begriff Alt-Stuhr abzurücken.
Wo der Name herkommt
Seinen Namen verdankt Stuhr wie von Jürgen Timm beschrieben dem Flüsschen Sture. An dessen Ufern ließen sich bereits 1171 die ersten Siedler nieder, ist auf der Homepage der Gemeinde Stuhr nachzulesen. „Noch heute findet sich entlang der Stuhrreihe eine weitgehend in ihrer ursprünglichen Form erhaltene Bauernsiedlung. Bis heute hat der Gemüseanbau Tradition“, heißt es dort weiter. Wer mehr über die Sture und den heutigen Stuhrgraben erfahren möchte, wird in „Das Buch von Stuhr“ von Erich Lemberg fündig. In dem 1966 erschienenen heimatkundlichen Werk schreibt der Autor: „Der Stuhr-Graben ist die alte Sture, die dem Ort den Namen gab. Er ist eine alte Abzweigung des Klosterbachs und muß einmal sehr viel breiter gewesen sein.“ Im Sumpfland der Sture sei der Ort Stuhr entstanden. Da der Fluss dem ganzen Bereich seinen Namen gegeben hat, muss es laut Lemberg „schon bedeutend“ gewesen sein. Auch er schreibt, dass der Name nach Ansicht mehrerer Namensforscher vom Althochdeutschen stûr abgeleitet wurde, was groß, stark, mächtig bedeutet. Der heutige, mehrfach begradigte Stuhrgraben ist dagegen tatsächlich nur noch ein Graben. Er mündet in der Nähe des Bremer Flughafens in die Ochtum. Gut sichtbar ist er etwa kurz vor der Autobahnunterführung von Stuhrbaum Richtung Brinkum.