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Geflüchtete aus der Ukraine in Stuhr Hand in Hand ins neue Leben

Nachdem Alla und ihre Tochter Dariia die Ukraine verlassen hatten und bei Mirco Uhde in Bürstel ankamen, herrschte zunächst Stille. Nun bauen sich Mutter und Tochter in der besonderen WG ein neues Leben auf.
25.03.2022, 19:17 Uhr
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Hand in Hand ins neue Leben
Von Alexandra Penth

Stuhr-Heiligenrode. Alla hatte lange mit sich gerungen. Sollte sie ihre Heimat verlassen, damit zumindest ihre jüngste Tochter Dariia ein Leben in Frieden ohne große seelische Wunden leben kann? Vier Nächte hatte sie wach gelegen und sich immer wieder diese Frage gestellt. Eine Freundin, die in einem Militärkrankenhaus arbeitet, hatte sie noch vor der offiziellen Nachricht angerufen mit den Worten: "Es ist Krieg, ihr müsst fliehen." Alla, deren vollständiger Name der Redaktion bekannt ist, lebte mit ihrer Familie bis dahin in einem Ort nahe Chmelnyzkyj, angrenzend an die 120 Kilometer westlich von Kiew gelegene Großstadt Schytomyr in der Ukraine. In den kommenden Tagen, als die russischen Truppen vorrückten, seien die Menschen wie benebelt durch die Straßen gewandelt, erinnert sich Alla. Am 2. März beschloss sie, mit der zwölfjährigen Dariia zu fliehen. Auch ihr Mann, der in den Krieg gezogen war, hatte ihr dazu geraten. Das nötigste einzupacken, die Kleidung in mehreren Lagen anzuziehen, all das kannte Alla von zahlreichen Wanderausflügen. Gemeinsam mit einer Freundin und ihren zwei Kleinkindern harrten Dariia und sie fünf Stunden im Keller aus, als Bomben auf ihre Heimat fielen. Die Kinder schrien und waren kaum zu beruhigen. Die Frauen beschlossen, mit dem Verstummen der Explosionen aufzubrechen. Ihre Freundin ist später bei Bekannten in Polen geblieben, sagt Alla.

"Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal fliehen würde", wiederholt die 50-Jährige immer wieder. Vor drei Wochen sind Dariia und sie in Bürstel angekommen. Der Zug brachte sie zunächst nach Bremen, eine Nacht waren sie bei einer Bekannten untergekommen, dann fand sich über mehrere Ecken Mirco Uhde, der beide in seiner Wohnung in Stuhr aufnahm. In den ersten Tagen sei sie geradezu paralysiert gewesen, hat ihre Umgebung nicht wahrgenommen, praktisch durch sie hindurch geblickt, sagt Alla. Ihre Mimik zeigt sich auch jetzt selten, sie spricht leise, nimmt sich Zeit, ihre Erinnerungen zu ordnen. Manchmal lächelt Alla. Wenn sie ihrer Tochter beim Spielen zusieht oder wenn Dariia am Gartentisch mit Mirco Uhde flachst. Allas rot-blond gefärbtes Haar ragt voluminös auf ihre Schultern. Die gelernte Friseurin hat schon wenige Tage nach ihrer Ankunft angefangen, sich und alle um sich herum zu frisieren. "Sie sagt: Die inneren Wunden sind da, ich will aber wieder Mensch sein", gibt Corinna Kotzott wieder, was Alla ihr erzählt hat. Die 36-Jährige ist Mirco Uhdes Lebensgefährtin und verbringt viel Zeit mit der neuen Wohngemeinschaft. Das Paar hatte Mutter und Tochter auch beim Kontakt zu Einwohnermeldeamt, Sozialamt und Ausländerbehörde unterstützt. Letztere erteilt die Aufenthaltsgenehmigung, damit Alla in Deutschland als Friseurin arbeiten könnte – und das will sie unbedingt. Sie hat inzwischen auch ihr eigenes Geld vom Sozialamt. "Das erste, was sie sich gekauft, war Friseurwerkzeug", sagt Mirco Uhde. 

Seit vergangener Woche geht Tochter Dariia wieder zur Schule. Der Bus bringt sie zur Kooperativen Gesamtschule (KGS) in Moordeich, wo sie regulär am Unterricht teilnimmt und separate Deutschkurse erhält. Jeden Tag bekommt sie ein Tablet mit installierter Übersetzungs-App zur Verfügung gestellt, weil sie ihr Handy in der Schule, auch zwecks Verständigung, nicht benutzen darf. In der Ukraine war sie eine gute Schülerin, weshalb sie nun die sechste Klasse des Gymnasialzweiges besucht. Dariia soll einmal studieren, wie alle aus der Familie, sagt Alla. Sie selbst hatte einst Kunstgeschichte studiert, in ihrem Berufsfeld habe es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion jedoch keine Arbeit mehr gegeben.

Ihr Handy hat Alla nun immer bei sich. Zum einen, um sich per Google-Übersetzung mit Mirco Uhde und Corinna Kotzott zu verständigen, zum anderen, weil darauf eine Warn-App installiert ist. So verfolgt sie, was in der Heimat passiert, ob ihre Familie in Sicherheit ist. "Seit drei Stunden sind sie im Bunker", gibt Alla einen Zwischenstand. Kurz herrscht Schweigen am Gartentisch in der sanften Nachmittagssonne in Bürstel. 

Alla hat fünf Kinder, die bis auf Dariia alle erwachsen sind. Die drei Töchter sind bei ihren Männern in der Ukraine geblieben, ihr Sohn, der älteste von ihnen, kämpft. Die Schwiegertochter ist mit dem zweieinhalbjährigen Enkelkind nicht geflohen, weil sie ein Familienmitglied pflegt. Täglich hält Alla Kontakt.

Dichtes Gedränge bei der Flucht

Es herrschte dichtes Gedränge, als Dariia und sie mit dem Zug von Lwiw in die polnische Stadt Przemy?l wollten, doch sie hatten Glück und erwischten einen außerplanmäßigen Zug. Als sie ankamen, gerieten sie in eine Warteschlange in einer Bahnunterführung. Sieben Stunden standen sie dort dicht gedrängt. Panik brach aus, Menschen kollabierten, Notärzte kämpften sich durch die Massen. Auch Dariia wurde schlecht durch den Sauerstoffmangel, sie musste ärztlich versorgt werden. "Wir hatten Glück", sagt Alla über die kritische Situation. Auf engstem Raum ging es später weiter mit dem Zug nach Deutschland.

Mirco Uhde war gerade beruflich unterwegs, als seine Schwester über mehrere Ecken den Kontakt zu Alla und Dariia hergestellt hatte. Er hatte einmal beiläufig fallen lassen, sein Gästezimmer im Dachgeschoss potenziell zur Verfügung stellen zu können. Als der 41-Jährige und seine Lebensgefährtin Mutter und Tochter aus Bremen abholten, war die Rückfahrt still. "Ich habe zwar Austauscherfahrung, aber das war anders", sagt Corinna Kotzott. An den ersten Tagen hatte sie ihr Homeoffice in der Bürsteler Wohnung ihres Lebensgefährten eingerichtet, um bei Fragen vor Ort zu sein, während er arbeitete.

"Ein richtiger Alltag hat sich noch nicht eingestellt", sagt Uhde. Das gemeinsame Abendessen ist jedoch zum Ritual geworden, um sich auszutauschen und mehr voneinander zu erfahren. In der Küche hängt ein Kalender, in den jeder seine Termine einträgt – inzwischen gibt es auch eine gemeinsame Spalte. So war die neue Wohngemeinschaft bereits mit anderen Ukraine-Flüchtlingen im Bürgerpark, auch bei einem Fußballspiel von Mirco Uhde haben Alla und Dariia zugesehen. "Alla sagte, es sei schön, zu sehen, wenn Männer mit einem Ball statt mit Waffen spielen", sagt Uhde. Parallel zu seinem gewohnten Alltag hat er nun auch immer eine Welt vor Augen, die in Trümmern liegt.

Große Solidarität spürbar

Alla und Dariia nehmen die große Solidarität, die auch in Deutschland mit ukrainischen Flaggen kundgetan wird, sehr stark wahr, sagt Corinna Kotzott: "Ich glaube, das hilft." Genau wie die unbürokratische Anmeldung bei der Schule und die Möglichkeit für Geflüchtete, den ÖPNV kostenlos zu nutzen. Da war jedoch auch eine Sache, die Alla und Dariia zunächst beunruhigt hatte, weil das Geräusch sie an einen anderen Kontext erinnerte: die Alarmierung der Feuerwehr per Sirene. "Das ist eigentlich das Erste, was man erklären muss, um Ängste zu nehmen", sagt Uhde.

Zwei Wildgänse fliegen über das Backsteinhaus in Bürstel. Dariia macht sie lachend nach, Mirco Uhde stimmt ein. Um sich auf die neue Wohnsituation einzulassen, brauche es Vertrauen auf beiden Seiten, sagt Corinna Kotzott. Zwei Kriegsflüchtlinge bei sich aufzunehmen bedeutet für Mirco Uhde vor allem, nicht ohnmächtig zu sein: "Man kann eben nur die Symptome lindern, nicht die Ursache", sagt er.

Dass sie Schutz in Deutschland suchen würden, stand für Alla und Dariia sofort fest, als sie aufbrachen. Die Familie ihres Mannes hat deutsche Wurzeln, weshalb schon länger der Gedanke existierte, eines Tages zurückzukehren, sagt Alla. Nur war sie immer von anderen Umständen ausgegangen. Irgendwann möchten sich Mutter und Tochter eine eigene Bleibe suchen, doch am Anfang steht das Ankommen. Bei der Frage, ob sie bereits Freundschaften geknüpft hat, zeigt Alla auf Mirco Uhde und seine Lebensgefährtin. Corinna Kotzott wirft ihr einen Luftkuss zu, den Alla auf die andere Seite des Tisches zurückschickt.

Zur Sache

Wo es Hilfsangebote gibt

Stuhrs Bürgermeister Stephan Korte hatte Mitte der Woche erklärt, dass zurzeit 192 Geflüchtete aus der Ukraine in der Gemeinde Stuhr leben, neun davon in gemeindlichen Unterkünften und der überwiegende Teil bei Gastfamilien. Dies verband der Bürgermeister mit einem Dank an die Helfer und sagte: "Wir stehen noch ganz gut da, was die Ressourcen angeht."

Anlaufstellen für Geflüchtete sind in der Gemeinde das Flüchtlingsnetz Stuhr, das den Treffpunkt B5 an der Bremer Straße 5 in Brinkum betreibt. Geflüchtete und Aufnehmende finden wiederum Kleidung, Spielzeug, Haushaltsartikel und Bücher jeden Dienstag von 10 bis 18 Uhr im Kleidershop "Roter Faden" des DRK Brinkum an der Syker Straße 5. 

Wichtige Informationen zur Orientierung und ein Portal zum Anbieten privater Unterkünfte sind auch unter dem Reiter „Hilfe für die Ukraine“ auf der Internetseite der Gemeinde unter www.stuhr.de zu finden. Hilfsangebote im ganzen Landkreis Diepholz sind auch auf der Internetseite www.hand-in-hand.team dargestellt.

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