Stuhr. Das Schicksal von Maria Anna Franz genannt Mariechen Legenhausen ist erschütternd: Das junge Mädchen, das in Stuhr aufwuchs, starb nach ihrer Verfolgung durch das NS-Regime nur vier Tage nach ihrem 17. Geburtstag im Jahr 1944 im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Zuvor war die gebürtige Sinteza in Auschwitz-Birkenau eingesperrt und wurde in Bremen zwangssterilisiert.
Ihre Geschichte und die weiterer Opfer der NS-Diktatur in Stuhr sollen nun aufgearbeitet werden. Auf Antrag der SPD- und der Grünen-Fraktion sollen gemeinsam mit der Stiftung Spuren-Gunter-Demnig sogenannte Stolpersteine verlegt werden. Gleichzeitig soll mittels einer wissenschaftlichen Arbeit nach weiteren Opfern gesucht werden. Außerdem sollen sich Schüler und Lehrer verstärkt mit Projekten zur Aufarbeitung beschäftigen. Auch solle die Bevölkerung bei der Suche nach Opfern helfen, heißt es in dem Antrag, der am Dienstag im Ausschuss für Jugend, Freizeit, Kultur und Soziales beraten und einstimmig angenommen wurde.
Zuvor hatten Stuhrs Gemeindearchivarin Elisabeth Heinisch und der Holocaust-Forscher Hans Hesse erste Informationen rund um Stuhrer Opfer der NS-Diktatur präsentiert. Zwei seien derzeit bekannt, es gebe aber auch Hinweise auf weitere Opfer, zu denen noch Nachforschungen angestellt werden müssten, so Heinisch.
Besonders gut sei das Schicksal von Mariechen Legenhausen dokumentiert. Das sei ungewöhnlich, da die Täter meist die entsprechenden Dokumente vernichtet hätten, erklärte Hesse. "Es ist ein Fall, der mich immer wieder erschüttert", sagte er. Wie alle NS-Verfolgungsfälle sei auch dieser von einer "beispiellosen Inhumanität" gekennzeichnet. Besonders erschütternd sei die Zusammenarbeit von fünf Institutionen, so Hesse weiter.
Mariechen Legenhausen wurde am 21. September 1927 in Riepe bei Aurich geboren. Ihre Mutter hatte sie aufgrund von Krankheit in ein Krankenhaus gebracht. Dort verlor sich aber der Kontakt und im Alter von sechs Monaten wurde Mariechen durch die Bremer Jugendfürsorge zu einer Pflegefamilie, der Familie Legenhausen in Klein Mackenstedt, gegeben. Bis Ostern 1942 ging sie in Heiligenrode zur Schule.
Die zweite Institution, die dann über ihr Leben und ihren Tod entschied, war die evangelische Kirche. Lange Zeit war davon ausgegangen worden, dass sie nicht konfirmiert werden konnte, weil sie Katholikin war. Im Meldeeintrag, den Heinisch gefunden hat, steht sie aber als Protestantin. "Die evangelische Kirche hat damals keine Sinti und Roma konfirmiert. Und Mariechen war eine Sinteza", so Hesse. So sei ihr die Konfirmation aufgrund ihrer "Rasse" verweigert worden.
Im April 1942 startet Legenhausen als Hausgehilfin in einem Kindergarten in Bremen. Im gleichen Jahr wird sie aber durch eine Diakonissin denunziert. Das Jugendamt setzt daraufhin das Verfahren zur Zwangssterilisation in Gang. Dort greifen als dritte Organisation das Bremer Erbgesundheitsgericht und das Gesundheitsamt ein. Die 15-jährige Mariechen muss sich vor einem Gremium rechtfertigen und untersuchen lassen – ohne Vormund oder rechtlichen Beistand. Sie wird dann, weil sie angeblich "angeboren schwachsinnig" sei, in der Klinik St.-Jürgen-Straße zwangssterilisiert.
Vorher hatte es bereits eine Anfrage an die Bremer Kriminalpolizei gegeben, ob sie nicht mit den anderen Sinti und Roma im Jahr 1943 nach Auschwitz gebrachten werden könne, so Hesse. Die Polizei lehnte dies ab, die drei Transporte seien schon "voll". Mit einem vierten Transport Ende des Jahres könne aber auch sie deportiert werden. Sie wurde dann in der Nervenklinik Bremen untergebracht.
Im März 1944 wurde sie in das Arbeitshaus Farmsen in Hamburg gebracht. Von dort aus wurde sie sechs Wochen später mit anderen Sinti und Roma auf Drängen der Kriminalpolizei nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Das zeige, dass Legenhausen aufgrund ihrer Herkunft verfolgt wurde und nicht, weil sie angeblich "schwachsinnig" war, so Hesse. In Auschwitz-Birkenau kam sie in das sogenannte "Zigeuner-Lager". Mit der Räumung dieses Lagerteils 1944 wurden 2000 bis 3000 Insassen vergast. Weil Legenhausen als "arbeitsfähig" galt, wurde sie nach Ravensbrück gebracht. Dort starb sie am 25. September 1944 offiziell an Tuberkulose. Vielmehr sei sie aber an den Lebensverhältnissen dort gestorben. "Man kann durchaus von einer Ermordung sprechen", sagte Hesse.
Besonders erschütternd sei, das Legenhausen quasi gezwungen wurde, eine kulturelle Identität anzunehmen, mit der sie so gut wie keinen Kontakt hatte. Auch gab es für ihren Tod keine Sühne. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Halbbrüder und ihr Stiefvater und die Familie der Mutter sind alle in Auschwitz ermordet worden. So konnte niemand einen "Wiedergutmachungsantrag" nach dem Krieg stellen. "Die Familie wurde vollständig ausgelöscht", so Hesse. Die Täter seien alle nicht für ihr Tun zur Verantwortung gezogen worden.
Da sich der letzte Wohnort von Legenhausen an der Straße Kronsbruch 55 nicht für eine Verlegung eines Stolpersteins eigne, könnte dieser an der alten Schule in Heiligenrode (heutiges Gemeindehaus) oder am Eingang vom Parkplatz zum Gemeindehaus verlegt werden. Vor Ort entstand auch ein Klassenfoto, das Legenhausen als Schülerin zeigt. In Heiligenrode habe sie die längste Zeit "unbehelligt" gewohnt. Außerdem sei der Ort pädagogisch wertvoll. Das alles sei auch eine Art "Alleinstellungsmerkmal", so Hesse. Gemeinsam mit Kevin Kyburz vom Syker Kreismuseum arbeite er derzeit an einer Veröffentlichung zu dem Fall.
Als zweites Opfer wurde bisher Martha Löwenstein (geb. Cohn) identifiziert. Sie wurde am 22. Januar 1879 in Brinkum geboren und war mit dem Schlachter Albert Löwenstein verheiratet, der im Ersten Weltkrieg fiel. Zunächst betrieb sie den Laden weiter, später musste sie das Haus und die Schlachterei aber "mehr oder weniger freiwillig" an ihren Pächter Steding verkaufen, so Heinisch. 1937 kam sie nach Emden in ein jüdisches Altersheim. Am 23. Oktober 1941 wurden alle Bewohner ins Ghetto ?ód? deportiert. Es sei davon auszugehen, dass sie dort umgekommen ist. Als Ort für einen Stolperstein käme der Ort des letzten Wohnhauses an der Bremer Straße 36 in Brinkum in Betracht.
Wolfgang Depken (Grüne) sprach sich für den Antrag aus. Als Kind der Nachkriegsgeneration habe er festgestellt, wie tief die Indoktrination der NS-Jahre auch in der westdeutschen Gesellschaft noch war. "Geschichte kann sich wiederholen – und zwar jetzt", sagte er mit Blick auf den aktuellen Aufstieg der AfD. Deshalb müssten die Stuhrer Fälle dokumentiert und dargestellt werden. Michael Wischniewski-Purrmann (Grüne) sprach sich für die Stärkung der Erinnerungskultur zur Prävention aus. Die Stolpersteine wären ein wichtiges Mahnmal für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im NS-Regime.
Auch Sebastian Koch und Ilse Zeineddine (SPD) sprachen sich für den Antrag aus. Koch sprach den aktuellen Antisemitismus-Bericht der Bundesregierung und die Wahlerfolge der AfD in Thüringen an. "Wir haben eine starke Aufgabe, Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung hochzuhalten", sagte er. Die Stolpersteine seien ein guter Weg, das auf lokaler Ebene zu tun. Zeineddine sprach von einer "historischen Verantwortung, die wir alle tragen". Das NS-Regime habe versucht, die Opfer zu Nummern zu machen, die Stolpersteine würden ihnen aber ihre Namen zurückgegeben. Christdemokratin Frauke Koersen schloss sich ihren Vorrednern an.