Lilienthal. Auf den ersten Blick sieht eigentlich alles aus wie immer. Die Lilienthaler Hauptstraße ist belebt, aber nicht überfüllt. Der Feierabendverkehr an diesem Nachmittag setzt nur langsam ein; radelnde Tagesausflügler sind, wohl auch angesichts der mittelmäßig sommerlichen zwölf Grad, nur sporadisch auszumachen. Ein bisschen normal, scheint es. Und weil Normalität in Zeiten von Corona, trotz der aktuellen Lockerungen, eher unnormal ist, sucht der zweite Blick sofort nach den untrüglichen Spuren der Krise. Er findet sie auf Schildern an den Geschäftseingängen, mal klein und handschriftlich, mal groß und gedruckt: „Bitte nur eine Person im Geschäft“ oder „Bitte zwei Meter Abstand halten“. Er findet sie in der mittlerweile routiniert wirkenden Bewegung, mit der die Maske vor der Ladentür aus der Tasche gezogen und aufgesetzt wird.
Reisen adé, Eis auf die Hand
Und er findet sie am etwas ruhigeren Ende der Hauptstraße, wo Doris Wiegmann-Janssen an ihrem Schreibtisch im Tui-Reiseladen sitzt, und erzählt, was Normalität für sie momentan bedeutet: eine Dienstleistung zu liefern, ohne dafür Geld zu bekommen. Alltag, das sei aktuell vor allem die Rückzahlung von Provisionen an die Reiseanbieter, wenn Kunden ihre gebuchten Reisen stornieren. Ob das oft vorkomme, ist eher eine rhetorische Frage. Urlaube im März, April und Mai: alle abgesagt, erklärt sie. Sogar für Mitte Juli geplante Reisen würden viele Kunden noch stornieren. „Wir leben von den Provisionen“, sagt Wiegmann-Janssen aus sicherer Entfernung.
Ein bisschen verloren wirkt sie, alleine in ihrem umgestalteten Büro, in dem in normalen Zeiten Urlaubsstimmung entfacht werden soll. Jetzt ist von Vorfreude nicht viel zu spüren – im Gegenteil. „Neubuchungen gibt es so gut wie keine“, sagt Wiegmann-Janssen. „Auch für den Herbst nicht.“ Sie hoffe darauf, dass möglichst viele Reisewarnungen möglichst bald aufgehoben werden. Sie hoffe auf ein neues Konzept, mit dem eventuell ab November auch Reisen außerhalb Europas wieder möglich sein könnten. Eventuell. Könnten. Fragezeichen dominieren die Zukunft. Eigentlich alles sei unklar: wie es auf den Flughäfen aussehen wird, wie die Bestimmungen in den einzelnen Ländern sich entwickeln, was mit den Kreuzfahrtschiffen passiert. Zumindest bei einer Sache ist sich Wiegmann-Janssen sicher: „Der Massentourismus wird schrumpfen.“
Sommer, Sonne, Urlaub – im weitesten Sinne auch das Metier von Karin Holthuis. 300 Meter die Straße hinauf gräbt sie die metallene Kelle tief in das Joghurteis. Die beiden Mädchen machen sich mit Waffeln in der Hand auf den Weg, dann ist erst mal Ruhe. „Ist zu kalt heute für Eis“, sagt Holthuis lächelnd. Und tatsächlich: Der Andrang am Eiscafé Lilienthal hält sich in Grenzen. Drinnen ist es ohnehin dunkel und leer. Geschlossen. „Wir haben es probiert, aber der Aufwand mit den ganzen Auflagen ist enorm“, sagt Holthuis. Durch das Fenster sind noch die grünen Klebestreifen zu sehen, mit denen Holthuis die Abstände auf den Sitzbänken markiert hat. „Es lohnt nicht“, sagt sie. Frühestens mit der nächsten Lockerungsstufe will sie wieder öffnen; spätestens aber im Juli, wenn die Mehrwertsteuer in der Gastronomie für zunächst ein Jahr von 19 auf sieben Prozent gesenkt wird.
Was sie jetzt an der Außentheke verkaufe, sei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. 20 bis 30 Prozent des üblichen Umsatzes mache das Eiscafé aktuell. „Ein normaler Eisbecher, den die Gäste im Café verzehren, kostet fünf bis sechs Euro. An der Außentheke bestellen die Leute eine Kugel auf die Hand. Man kann sich leicht ausrechnen, wie viel mehr Kunden wir also bräuchten, um das auszugleichen“, sagt Holthuis. Zudem sei es ärgerlich, dass manche Kollegen aus der Branche die Regeln ignorieren würden – auch auf der Lilienthaler Hauptstraße. Ihren Optimismus wolle sie aber trotzdem nicht verlieren. „Überhaupt öffnen zu können ist das Wichtigste“, sagt Holthuis. Dass jedoch manche Kunden zunehmend ungeduldiger und teilweise sogar beleidigend werden würden, weil nicht alles wie in normalen Zeiten läuft, treffe sie schwer. „Ich will doch nur Eis verkaufen“, sagt Karin Holthuis.
Bücher gehen immer
Wenn Holthuis sich etwas aus dem Fenster beugt, kann sie auf der anderen Straßenseite den Buchladen „Buchstäblich“ sehen. Im Schaufenster liegen dort die neuesten Bücher, angestrahlt vom gelblich-warmen Licht der Deckenscheinwerfer. Im Inneren ist das Licht gedämpft, man trifft auf Ulrike Renneberg, die gute Laune hat. „Der Zulauf ist richtig gut“, sagt sie. Seit zwei Wochen ist der Laden wieder offen. „Schon am ersten Tag waren sehr viele Leute da“, erzählt Renneberg. Besser noch: Sie seien gar nie weg gewesen. Als der Laden im März und April geschlossen bleiben musste, hätten viele Kunden dem Geschäft die Treue gehalten und sich ihre Bücher liefern lassen. Trotzdem seien die Umsätze in diesem Zeitraum um ein Drittel zurückgegangen, sagt Gabi Heinrichs, Inhaberin der Buchhandlung. „Das Stöbern im Geschäft fiel natürlich weg, das lässt sich nicht ersetzen.“ Seit der Wiedereröffnung kämen dafür sogar mehr Leute als in den vergangenen Jahren zu dieser Zeit. Viele Leute würden es vermeiden, in die Stadt zu fahren, und stattdessen lieber vor Ort kaufen. „In der aktuellen Situation lesen die Menschen generell mehr als üblich“, meint Renneberg. Viele Kunden würden jetzt auch direkt einen Stapel auf Vorrat kaufen.
Drei Geschäfte im Lilienthaler Ortszentrum, nur wenige hundert Meter auseinander, aber in ganz unterschiedlichen Phasen der Krise – das ist der Stand nach zwei Monaten Corona. „Den Umständen entsprechend“, ist aktuell eine beliebte Antwort auf die Frage, wie es gehe. Die Antworten werden sich in den kommenden Wochen wohl auch in Lilienthal kaum verändern, die Umstände dafür aber mit ziemlicher Sicherheit.
Corona-Lockerungen
Seit einer Woche dürfen in Niedersachsen alle Geschäfte wieder öffnen. Eine Flächenbeschränkung gibt es nicht mehr. Auch Friseure, Kosmetiksalons und ähnliche Dienstleister können wieder Kunden bedienen. Die Gastronomie darf ebenfalls öffnen. Vor einem Besuch sollten Gäste aber bei dem jeweiligen Restaurant nachfragen, da viele Betreiber sich angesichts der Auflagen vorerst gegen eine Öffnung entschieden haben. Ab dem 25. Mai soll es neue Lockerungen für gastronomische Betriebe geben. Die Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr sowie die generellen Abstandsregeln gelten unverändert.