Es ging nicht um Auf- oder Abstieg. Es gab keine echte sportliche Brisanz. Nein, es war nicht einmal ein richtiges Punktspiel. Und dennoch lässt Wolfgang Wenzel und seine damaligen Handball-Teamkollegen vom TV Lilienthal dieses Spiel bis heute nicht los. Denn dieses Showmatch fand vor fast 2000 Zuschauern statt – und was noch viel bedeutender war: es wurde knapp 9000 Kilometer entfernt von der Lilienthaler Heimat ausgetragen.
Im November 1979 war es, als Wolfgang Wenzel, Peter Sochurek und Wolfgang Grimm gemeinsam mit zwölf anderen Teamkollegen der ersten Handballmannschaft des TV Lilienthal in die große PAN AM-Maschine stiegen, um für zwölf Tage ins ferne Hongkong zu fliegen. Eine neue Welt, kulturell, kulinarisch, sportlich. Ernst Behrens, ein gebürtiger Lilienthaler und früheres Teammitglied beim TVL, war 1976 beruflich nach Hongkong gezogen und wollte dort den Handballsport populärer machen.
„Handball war praktisch nicht existent, die Menschen kannten diesen Sport eigentlich nicht“, erinnert sich Behrens. Also suchte er sich Unterstützung und gründete den Hongkonger Handball-Association, zu deren Vize-Präsident er dann auch gleich mal ernannt wurde. Um seinen geliebten Handball dann einer breiteren Masse anschaulich und zugänglich zu machen, kam Behrens eine Idee: Er wollte eine deutsche Mannschaft einladen, um mit dieser dann gemeinsames Training und Spiele zu veranstalten, Trainer- und Schiedsrichterlehrgänge durchzuführen.
Dass ausgerechnet der TV Lilienthal dann in diesen Genuss kam – immerhin wurden sämtliche Kosten vom Hongkonger Verband übernommen – begründet Behrens heute so: „Die Frage war ja: Inwieweit blamiere ich mich eventuell, wenn ich eine sportlich nicht so hoch angesiedelte Mannschaft hole? Die Sponsoren wollten ja auch etwas zu sehen bekommen und hatten eine Menge Geld locker gemacht.“ Auch ein Handball-Bundesligist hätte eine solche Einladung sicher mit Kusshand angenommen. Hinter den Kulissen gab es deshalb durchaus kontroverse Diskussionen mit einigen Verbandsoffiziellen. Am Ende aber setzte sich der gebürtige Lilienthaler Behrens durch, denn: „Der Charakter war genauso wichtig. Und da konnte ich mich für jeden Einzelnen in dieser Lilienthaler Mannschaft verbürgen.“
Also bestiegen 15 aufgeregte Lilienthaler am 15. November 1979 in Frankfurt den Flieger nach Hongkong. „In diesen Jumbo zu steigen war ein unglaubliches Gefühl“, erinnert sich Wolfgang Grimm. „Wer hatte so etwas schon zuvor erlebt?“ Für fast alle im Team war es die erste Flugreise ihres Lebens. Um für wirklich alles gerüstet zu sein, hatten sich Wenzel, Grimm und Co. zuvor akribisch vorbereitet. „Wir haben geübt, mit Stäbchen zu essen. Wir wollten uns schließlich nicht blamieren“, berichtet Wolfgang Grimm.
Der Anflug nach 25-stündiger Reisezeit auf den auf einer schmalen Landzunge gebauten Hongkonger Flughafen war dann schon das erste große Abenteuer. „Da konnte man die Unterhosen auf den Balkonen flattern sehen“, erinnert sich Wolfgang Wenzel an den aufregenden Start ins zwölftägige Abenteuer. Untergebracht waren die Lilienthaler in der YMCA-Jugendherberge. Bereits am Tag nach der Landung stand das erste Spiel gegen eine Auswahl des sogenannten Polytechnikums an, dass die Lilienthaler nach leichten Anlaufschwierigkeiten mit 23:13 gewannen.
Der eigentliche sportliche Höhepunkt war dann aber das Spiel gegen das Hongkong-Allstar-Team. Ernst Behrens hatte mit dem Verband ordentlich die Werbetrommel gerührt, und so hatten sich an jenem Abend fast 2000 Zuschauer eingefunden, um sich die deutschen Handballer mal genauer anzuschauen. Eine Kulisse, die die Lilienthaler natürlich von ihren Punktspielen in der Heimat überhaupt nicht kannten. Außerdem war das Fernsehen vor Ort, das einen entsprechenden Bericht anfertigen wollte. „Wir waren schon sehr nervös vor dieser Partie“, erinnert sich Wolfgang Wenzel. Nach einem nervösen Auftakt spielten sich die Lilienthaler aber in einen regelrechten Rausch und fertigten ihre Gegner am Ende mit 30:9 ab. „Die hatten schon ziemlich Respekt vor unserer Wucht, vor unserer Spielweise gehabt“, berichtet Wenzel. Fast alle Hongkonger Spieler kamen vom Basketball zum Handball, hatten somit entsprechende Probleme, sich an die Körperlichkeit zu gewöhnen. „Zudem haben sie den Ball immer prellen wollen wie beim Basketball“, erinnert sich Wenzel schmunzelnd.
Die Zuschauer jedenfalls waren restlos begeistert von der Lilienthaler Handballkunst und verpassten den exotisch anmutenden Deutschen gleich mal entsprechende Spitznamen. So wurde Wolfgang Wenzel zum „Killer-Shot“, Peter Sochurek zum „Charmingboy“. „Er hat immer so gegrinst, wenn er ein Tor gemacht hat“, erinnert sich Wenzel lachend. Allerdings wurde Sochurek auch die Ehre zuteil, bei Empfängen als Lilienthaler Sprachrohr zu fungieren, was er in einer derart souveränen Art und Weise tat, dass der „Charmingboy“ irgendwann tatsächlich zum Programm wurde.
Dieses Spiel in der feuchtschwülen Abendhitze von Hongkong ist bei Wenzel und den anderen Lilienthalern auch 41 Jahre später immer noch sehr präsent. „Das war nicht nur sportlich ein tolles Erlebnis, sondern auch von der allgemeinen Stimmung drumherum“, erinnert sich Wolfgang Grimm. Freundschaftlich fair ging es zu, vor, während und nach der Partie. Von gegenseitigem Respekt sei nicht nur dieses Spiel, sondern die gesamte Reise geprägt gewesen. Man habe sich schließlich als Repräsentant seines Landes gefühlt, sagt Wenzel: „Wir waren ja gefühlt die einzigen Deutschen in der Stadt. Das kann man einfach nicht mit einem Thailand-Urlaub von heute vergleichen. Es war eine ganz andere Zeit.“
Eine Zeit ohne Handys, ohne Internet. Dafür mit einem kalten Krieg und einer strikten Trennung in Ost und West. Das war auch in Hongkong, bis 1997 britische Kronkolonie, zu jener Zeit deutlich spürbar. Und prägte die Erfahrungswelt der Lilienthaler Handballer nachhaltig. So erinnert sich Wolfgang Wenzel noch sehr genau an den vielleicht beeindruckendsten Moment der damaligen Hongkong-Reise. Bei einem Ausflug nach Macau sei man bis auf kürzeste Distanz an die Grenze zu China gekommen. Ein Land, das damals, ähnlich übrigens wie die DDR, in einer anderen Welt, fast schon auf einem anderen Planeten zu liegen schien. „Es klingt zwar komisch, aber das fühlte sich für uns komplett anders an, China so nah zu sein und es sogar sehen zu können“, erinnert sich Wenzel.
Fast ebenso beeindruckend war auch der Empfang beim damaligen Bürgermeister von Hongkong. Zur Erinnerung: Die asiatische Metropole hatte schon damals über 5 Millionen Einwohner – dennoch war der Besuch aus Lilienthal so außergewöhnlich, dass sich das Stadtoberhaupt Zeit für die TVL-Delegation nahm. Ein weiterer besonderer Moment war die Taufe von Ernst Behrens‘ Tochter. In der engen Erdgeschosswohnung wurde die kleine Melanie damals in einem Suppenkochtopf getauft – unter den Augen der gesamten Lilienthaler Reisegruppe, die komplett als Taufpaten fungierten.

Hongkong TV Lilienthal Handball Zeitungsartikel Rückkehr
„Die Jungs haben etwas kulturell völlig Neuartiges kennengelernt, das war eigentlich der größte Gewinn dieser Reise“, sagt Behrens heute. Der Blick auf die doch recht eindimensionale und bürgerliche Welt der deutschen Spätsiebziger-Jahre hatte sich bei vielen der jungen Männer schlagartig verändert. Die Rückkehr in den Alltag viel schwerer als erwartet. Für viele aus der damaligen Handballmannschaft war es zudem eine Abschiedstour gewesen. Die Zeit war reif, die jüngeren Spieler ranzulassen. Doch mit der Hongkong-Reise wurde endgültig ein festes Band um die Mannschaft gelegt. Eines, das bis heute hält.
Noch heute treffen sich zwölf der damals 15 Hongkong-Fahrer mehrmals im Jahr. Auch Ernst Behrens ist, wann immer es geht, dabei. Nur eines haben sie nie geschafft: Einen zweiten Trip in die mittlerweile zu China gehörende Metropole. Obwohl das immer wieder mal Thema gewesen ist. Vielleicht war es am Ende aber auch besser so. Denn eine solch perfekte und einzigartige Geschichte kann und sollte man wohl auch nicht wiederholen.
Wolfgang Wenzel (77)
zog 1968 aus dem westfälischen Hamm nach Lilienthal. Nach einer Zwischenstation in Bremen kam er zum TV Lilienthal, war jahrelang Spieler der 1. Herren und Jugendtrainer. Nach der Hongkong-Resie endete seine Handballlaufbahn und Wenzel spielte Tennis im TC Lilienthal. Als 1. Vorsitzender des TCL führte er den Verein 18 Jahre lang, machte ihn zum Aushängeschild der regionalen Tennisszene, zog mit ihm 2003 auf die moderne, neue 9-Feldanlage um und ist heute noch Ehrenpräsident. Beruflich kam er als Verkaufsleiter des größten Reifenherstellers Europas nach Lilienthal, machte sich selbstständig und führte die Firmen pointS-Wenzel, Wenzel-Industrie und Quickmont. Neben seinen ehrenamtlichen sportlichen Tätigkeiten war er fast zwei Jahrzehnte Vorsitzender der Lilienthaler Selbstständigen im WIR und der bundesweiten Reifenhandelsorganisation pointS. Heute reist Wenzel viel mit seiner Familie, ist aber auch immer noch regelmäßig beim TC Lilienthal anzutreffen.
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