Landkreis Osterholz. Die Mathematik wurde recht häufig bemüht in der Mehrzweckhalle der Integrierten Gesamtschule (IGS) Osterholz-Scharmbeck. Unterm Strich immer dasselbe Ergebnis: Eine Bahnfahrt von der Kreisstadt nach Bremen ist ein recht kostspieliges und damit zweifelhaftes Vergnügen. 12,50 Euro für einmal in die Hansestadt und retour: „Das macht bei zwei Personen 25 Euro. Dafür kann man dreimal mit dem Auto hin und her fahren“, rechnete Marcus Oberstedt von der CDU-Fraktion den Kollegen im Ausschuss für Planung und Stadtentwicklung vor. Ein Systemfehler, wie die Kommunalpolitiker fraktionsübergreifend resümierten. Sie fordern vom Zweckverband Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen (ZVBN) die Abschaffung der „Geisterzone 101“, wie SPD-Fraktionschef Werner Schauer sie nennt. Der Bürgermeister, so die Mitglieder des Fachausschusses, soll Vertreter des Zweckverbandes nach Osterholz-Scharmbeck einladen, um über das Tarifzonensystem zu diskutieren, das eine „krasse Ungerechtigkeit“ (Oberstedt) darstelle, die zulasten der Bewohner des sogenannten ländlichen Raumes gehe. Die CDU-Fraktion hatte sich Ende 2020 in einem Schreiben an Torsten Rohde für eine Änderung der für die Preisgestaltung geltenden Regeln stark gemacht. Inzwischen hat der Bürgermeister eine Antwort bekommen. Der christdemokratische Vorschlag, der auf eine Veränderung des Tarifzonensystems zielt, wurde vom ZVBN negativ beschieden: Nicht „umsetzbar“ und nicht zu finanzieren wegen zu erwartender Mindereinnahmen, die von der öffentlichen Hand ausgeglichen werden müssten.
Schon in der Bürgerfragestunde hatte eine Frau aus Osterholz-Scharmbeck mehrere Rechenexempel vorgeführt. Sie habe sich in Berlin für nur drei Euro die 40-minütige Fahrzeit von Köpenick bis nach Charlottenburg kaufen können, und die 6,25 Euro für die Einzelfahrkarte nach Bremen („Ganz schön happig“) stellte sie in Relation zum Mindeststundenlohn von 9,50 Euro.
Reguläre Benachteiligung
Die etwa 20 Kilometer lange Fahrt mit dem Regionalexpress zum Hauptbahnhof der Hansestadt dauert nur 13 Minuten. Zum Vergleich: Von Bremen-Arsten bis Bremen-Farge sind es fast 30 Kilometer, für die der Fahrgast nur 2,85 Euro berappen muss. Die Eingangspreisstufe A gilt nämlich für alle Fahrten im Tarifgebiet 1 der Stadt Bremen, unabhängig von Kilometerzahl und Fahrzeit. Denn beim VBN-Tarif handelt es sich um einen Flächen-Zonen-Tarif. Das heißt von Grundsatz her, dass eine Gemeinde eine Tarifzone bildet und der Fahrpreis sich aus der Anzahl der durchfahrenen Zonen ergibt. Eine strukturelle Benachteiligung des ländlichen Niedersachsens gegenüber Bremen. Wer von Osterholz-Scharmbeck nach Bremen will, quert auch die Tarifzone 101 (Bremen-Nord), sodass er das teure Ticket der Preisstufe D erwerben muss. Für Fahrten innerhalb Bremens wurde diese Zone aber schon 2015 abgeschafft. Die CDU-Fraktion hatte es in ihrem Antrag, den sie Ende des vergangenen Jahres im Rathaus eingereicht hatte, „im Vergleich zur Preissituation in Bremen für angemessen gehalten, zwischen Osterholz-Scharmbeck und Bremen lediglich eine weitere Tarifzone zu bilden“. So würde eine Einzelfahrt dann in die Preisstufe B fallen und 3,70 Euro kosten.
Dagegen hatte im Fachausschuss niemand etwas einzuwenden. Werner Schauer fand die aktuelle Situation „unzumutbar“, und Brigitte Neuner-Krämer (Bündnis 90/Die Grünen) mahnte, „dass wir nicht locker lassen dürfen“. Oberstedt will den ZVBN beim eigenen Leitbild packen. Der Verband habe sich dem Ziel verschrieben, den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver zu gestalten und dadurch mehr Menschen zur Nutzung von Bussen und Bahnen anzuregen. „Außerdem sollte im ZVBN ein Verhandeln auf Augenhöhe selbstverständlich sein und die Interessen des ländlichen Raumes sollten ebenso Berücksichtigung finden wie die Belange in modernen Großstädten.“
Die CDU-Fraktion knüpft an die Resolution an, die die Stadt Osterholz-Scharmbeck vor zwei Jahren an den Zweckverband geschickt hatte und unter anderem ebenfalls eine „Anpassung der Ticketpreise“ zum Inhalt hatte. Damals wurde auch vorgeschlagen, eine Tarifzone entfallen zu lassen. Alternativ wäre es auch sinnvoll, hieß es da, sich wie in der Region Bremen/Oldenburg mit dem Fahrpreis an der Entfernung zu orientieren.
Der ZVBN erklärte, dass eine Änderung der Tarifstruktur in der von der CDU gewünschten Weise zur Verschmelzung der Tarifzonen Ritterhude und Osterholz führen müsste. Auch die Tarifzone 101 (Bremen-Nord) müsste entfallen, was erhebliche Einnahmeausfälle zur Folge hätte. Der Verband kommt auf eine Summe von bis zu 1,5 Millionen Euro jährlich, die von der öffentlichen Hand auszugleichen wären. Er zitiert aus den Verbandsregularien und zieht daraus den Schluss, dass eine „isolierte Einzellösung für Osterholz-Scharmbeck nicht umsetzbar“ sei.
CDU stellt die Systemfrage
Neben der Kreisstadt ist auch die Kreispolitik mit dem Problem der VBN-Preise befasst. Die CDU-Abgeordnete Marie Jordan hat jetzt im Verkehrsausschuss des Kreistags ein einstimmiges Ausschussvotum erwirkt – für ein Anliegen, mit dem die Linkspartei vor vier Jahren gescheitert war. Jetzt forderte auch Jordan, die Tarife müssten sich stärker an der gefahrenen Strecke orientieren. Während man innerhalb Bremens etwa von Mahndorf nach Farge für 2,85 Euro rund 45 Kilometer weit kommt, zahlt man 6,25 Euro für die nur halb so weite Strecke vom Bahnhof Osterholz-Scharmbeck zum Bremer Bahnhof. „Das ist nicht attraktiv und benachteiligt das Umland“, stellte die Christdemokratin fest. Die entscheidende Preiszone Nummer 101 gehöre „aus Gründen der Tarifgerechtigkeit“ abgeschafft.
Kurt Klepsch (SPD) nickte: „Das ist nicht nachzuvollziehen und einfach zu teuer.“ Klepsch sagte, auch seine Fraktion habe derlei schon 2018 gefordert – bisher vergebens. Mit dem Ausschussvotum solle Landrat Bernd Lütjen im Zweckverband des Verkehrsverbunds Bremen/Niedersachsen (ZVBN) vorstellig werden, dessen Vorsitzender Lütjen ja selbst sei. Bernd Rugen (Die Linke) signalisierte Unterstützung, wenngleich seine Fraktion noch weitere Ziele wie ein Sozialticket hätte.
Der Bündnisgrüne André Hilbers sagte, für eine Lösung des Problems müssten CDU und SPD auch auf Landesebene tätig werden, denn der Verkehrsverbund werde die wegfallenden Einnahmen dem Landkreis Osterholz zuliebe kaum auf die ZVBN-Mitglieder umlegen. Niedersachsen aber, zuständig für die Schiene, spiele den Ball beim 365-Euro-Ticket für Schüler gerade an die Landkreise zurück. Hilbers glaubt, letztlich werde der Landkreis etwaige Mehrkosten tragen müssen – etwa auch für Jordans Wunsch nach mehr Rabattmöglichkeiten für Gelegenheitsfahrer. Immerhin biete schon ein Vierer-Ticket ab Ritterhude mehr als 13 Prozent Preisvorteil.
AfD-Mann Thomas Gutwein erklärte, der ÖPNV von Schwanewede nach Bremen-Mitte sei preislich unattraktiv. Der Landkreis brauche aber wohl nicht auf Hilfe von Verbund oder Land zu hoffen. Marie Jordan setzte hinzu, die Union fordere keinen Osterholzer Alleingang, sondern ein grundlegend neues System für den ganzen Verkehrsverbund.
Verkehrsdezernent Dominik Vinbruck hielt zunächst dagegen: „Der Preis ist am Ende des Tages nicht maßgeblich, sondern wichtig ist, dass das Angebot stimmt.“ Das bedeute: genug Platz im Fahrzeug, das zuverlässig und hinreichend häufig fährt. Selbst kostenlose Systeme würden sonst verschmäht. Landkreis und ZVBN arbeiteten bereits an Angebotsverbesserungen zum nächsten Fahrplanwechsel, doch Mehrkosten wären letztlich über eine höhere Kreisumlage zu bezahlen.
Dennoch sei der CDU-Vorstoß in einem Punkte richtig: „Das Gefühl muss weg, dass das System überteuert und ungerecht ist“, so Vinbruck. Die Tarifzone 101 sei Jahrzehnte alt. Die Digitalisierung schaffe nun neue Möglichkeiten wie die Einrichtung von Monatsrechnungen oder einer Art verbundweiten Bahncard im Nahverkehr.