Worpswede. Die Zeiten von lauwarmem Hagebuttentee aus großen Blechkannen und schlaflosen Nächten unter kratzigen Wolldecken in riesigen Schlafsälen sind in den deutschen Jugendherbergen lange passé. Die Häuser, von denen es allein im Nordwesten des Landes 27 gibt, haben Einrichtung, Ausstattung und Image kräftig aufpoliert. Steigende Übernachtungszahlen belegen, Jugendherbergsurlaub ist angesagt, auch wenn nach wie vor das Gros der Übernachtungen durch Klassenfahrten und andere Gruppenreisen entstehen. Allerdings trifft auch die Jugendherbergen nun die Corona-Krise hart, sie sehen ihre Existenz bedroht.
Der Landesverband Unterweser-Ems des Deutschen Jugendherbergswerks (DJH) verzeichnete im vergangenen Jahr zwar mit 695 448 Übernachtungen einen leichten Rückgang von 0,2 Prozent, konnte aber bei der Anzahl der Gäste dennoch zulegen; mit 234 121 Gästen ein Plus um 5,2 Prozent. Es kommen also mehr Besucher, bleiben aber kürzer. Für die Jugendherberge Worpswede lässt sich dieser Trend allerdings nicht nachweisen, sie legt sowohl bei der Anzahl der Gäste als auch den Nächten, die sie blieben, fast deckungsgleich um neun Prozent und damit im Vergleich überproportional stark zu – von 16 594 Übernachtungen im Jahr 2018 auf 18 085 im vergangenen Jahr, verteilt auf 7324 Gäste. Das ist ein Plus von 656 Personen (2018: 6668 Gäste). Sie bleiben im Durchschnitt rund 2,5 Tage; dieser Wert ist nahezu unverändert, liegt allerdings unter dem Durchschnitt von knapp drei Tagen, der wiederum vor allem durch längere Aufenthalte in den Häusern auf den Ostfriesischen Inseln erreicht wird.
Vor allem Grundschulklassen und Kitagruppen, aber auch Familien sorgten für die Steigerung. Im vergangenen Jahr machten Klassenfahrten in den Jugendherbergen im Nordwesten fast 40 Prozent der Gesamtübernachtungen aus. Ebenfalls verstärkte sich 2019 der Trend zu Familienurlauben mit einem Plus von 6,7 Prozent. Rund ein Viertel aller Gäste kommen so in die Häuser. Die Worpsweder Jugendherberge ist zudem Standort für Nähcamps, die das DJH anbietet. Bei fünf Terminen im vergangenen Jahr nutzen über 120 Teilnehmer aus ganz Deutschland die Seminarräume für kreative Wochenendklassenfahrten mit anderen Nähbegeisterten, für 2020 waren zunächst sieben solcher Seminare geplant.
Jan-Walter Feldmann ist von der Entwicklung nicht überrascht. „Wir tun eine Menge dafür, dass wir über Übernachtung und Verpflegung hinaus ein tolles Angebot bieten“, sagt der Leiter der Worpsweder Jugendherberge. Die denkmalgeschützte Jugendherberge ist die Unterkunft mit den höchsten Übernachtungszahlen im Künstlerdorf, die insgesamt zuletzt 2017 ermittelt wurden. In der Regel kommt der Ort auf rund 50 000 Übernachtungen im Jahr, knapp 40 Prozent entfallen davon auf die Herberge am Hammeweg. Im vergangenen Jahr habe man zudem rund 180 000 Euro in die Hand genommen, um 20 weitere Zimmer zu renovieren. Für 2020 waren 200 000 bis 300 000 Euro für besseren Brandschutz eingeplant. Alle Investition sind nun gestoppt.
Auch Rotenburg legt zu
Auch die Jugendherberge Rotenburg konnte ihr Ergebnis aus dem Jahr 2018 um 0,7 Prozent leicht steigern. Der Landesverband hatte sie im Vorjahr als Sport-Jugendherberge ausgebaut. „Wir können mit unserem Übernachtungsergebnis zufrieden sein, da wir unter anderem – bedingt durch die Baumaßnahmen in Osnabrück und Oldenburg – mit deutlich weniger Betten am Markt waren als in 2018,“ sagt Thorsten Richter, Geschäftsführer des DJH Landesverbandes Unterweser-Ems. Auch die Zahl der Mitglieder im DJH Landesverband Unterweser-Ems ist um rund 1000 Personen gewachsen: 131 229 Mitglieder sind es damit insgesamt.
Das übernachtungsstärkste Haus des Landesverbandes ist die Jugendherberge Borkum mit 73 434 Übernachtungen, gefolgt von Neuharlingersiel, Bremen und Norderney. Besonders hoch ist der Anstieg der Übernachtungszahlen nach der Wiedereröffnung in Osnabrück (plus 19 Prozent) sowie in Alfsee (14 Prozent), Aurich und an der Thülsfelder Talsperre (jweils plus zehn Prozent). Worpswede liegt in diesem Ranking auf dem fünften Platz.
Aktuelle Lage ist dramatisch
Dass dieser Trend 2020 fortgesetzt werden kann, gilt schon jetzt als ausgeschlossen. Seit 19. März sind alle niedersächsischen Jugendherbergen zunächst bis zum 19. April geschlossen. Bereits in den Tagen zuvor haben die Jugendherbergen massiv Absagen hinnehmen müssen, auch gab es kaum Neubuchungen. Binnen weniger Tage ist die Zahl der Stornierungen im Nordwesten auf über 80 000 geklettert, aktuell erlebt der Landesverband eine zweite Stornowelle, die sich bereits auf Buchungen für den Sommer und Herbst bezieht. „Die Auswirkungen sind für uns dramatisch“, sagt Thorsten Richter. „Die Jugendherbergen bestehen seit 111 Jahren und geraten nun in eine große Krise".
Er sieht die Existenz der Jugendherbergen massiv bedroht und appelliert an die Politik, auch für die Jugendherbergen einen Rettungsschirm aufzuspannen. „Ohne Hilfe werden wir die Krise nicht überstehen“, so Richter. Der Landesverband hat alle 650 Mitarbeiter ab 1. April in Kurzarbeit geschickt. „Unsere Liquidität nimmt nichtsdestotrotz rapide ab“, so Richter. Denn auf nennenswerte Rücklagen kann der Landesverband nicht zurückgreifen – diese dürfen Jugendherbergen aufgrund ihrer Gemeinnützigkeit nicht bilden. Richter: „Die Tatsache, dass wir unsere Erlöse immer direkt in die Jugendherbergen reinvestieren, droht uns nun zum Nachteil zu geraten."
Nähcamp-Termine
Sechs weitere dreitägige Nähcamps für jeweils 40 Teilnehmer waren in diesem Jahr in der Worpsweder Jugendherberge geplant: Vier Termine zwischen März und Mai wurden wegen der Corona-Krise abgesagt, es soll vom 27. bis 29. November und 11. bis 13. Dezember weitergehen. Bei den Nähcamps bietet die Herberge Räume und Möglichkeiten, gemeinsam zu nähen und nähbegeisterte Menschen kennenzulernen. Die Gruppen werden von einen Teamer betreut, Tagungsräume werden gestellt. Es gibt keine vorgefertigten Muster, sondern es geht um Gemeinschaft, Austausch mit Gleichgesinnten und kreative Inspiration. Infos im Internet unter www.naehcamp.de.