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Pandemie-Folgen Generation Nachholbedarf

Der Lockdown bremst die kindliche Entwicklung. Was Forscher schon länger befürchten, wird allmählich sichtbar. Der Kreis Osterholz will nun die Ergebnisse der aktuellen Schuleingangsuntersuchungen auswerten.
08.05.2021, 08:25 Uhr
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Generation Nachholbedarf
Von Bernhard Komesker

Landkreis Osterholz. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani warnt vor massiven Folgen des Lockdown für Kinder, vor allem für Mädchen und Jungen im Vorschulalter. Für einige Kinder mit Migrationshintergrund sei die Kita der einzige Ort, an dem sie Deutsch sprechen; Scharen von Erstklässlern verlernten das Lesen und Schreiben wieder, sagt der Wissenschaftler aus Osnabrück, der sich mit den Bildungschancen benachteiligter Familien gleich welcher Nation befasst. Medienkonsum und Übergewicht, verlorene Zeiten des Lernens, der Förderung und sozialen Entwicklung: „Ein Jahr für ein Kind ist vergleichbar mit fünf bis zehn Jahren für einen Erwachsenen“, betont El-Mafaalani.

Während die Lehrkräfte an den Schulen darum bemüht sind, Lernrückstände aufzuholen, weisen Kinderärzte auf psychosomatische Störungen bei Heranwachsenden hin. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will unterdessen ein milliardenschweres Corona-Aufholpaket mit Nachhilfe und Sommercamps schnüren. Jeder vierte Schüler habe einen Lernrückstand, sagt Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Eine Verlängerung des laufenden Schuljahrs scheint für die Kultusminister in den Ländern dabei kein Thema zu sein.

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In Niedersachsen bleibt es dem Kollegium der einzelnen Schule überlassen, welche Inhalte es für verzichtbar hält oder welcher Lernstoff auf das kommende Schuljahr verschoben werden kann. Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) versuchte in einem Elternbrief am Dienstag zu beruhigen: „Eventuelle Lernrückstände müssen nicht schnell und verdichtet aufgeholt werden.“ Die Abiturprüfungen sind gleichwohl landesweit seit 19. April im Gange.

Und die Kitas? Aladin El-Mafaalani ist überzeugt, die Schulanfänger in diesem Sommer brächten besonderen Unterstützungsbedarf mit in die Grundschulen, der bisher kaum erkannt oder benannt sei. Auch im Landkreis Osterholz pendeln die Kindergärten seit Pandemiebeginn zwischen Schließung und eingeschränktem Betrieb. Kreisweit wird pro Schuljahr mit rund 1000 Erstklässlern gerechnet; mehr als ein Drittel davon durchlief im Vorjahr nicht die sonst übliche Schuleingangsuntersuchung im Gesundheitsamt.

In Bremen und Bremerhaven konnten die Schulärzte wegen coronabedingter Arbeitsbelastung ebenfalls nicht alle Schulanfänger in Augenschein nehmen. Normalerweise wird dabei die Schulreife eines ganzen Jahrgangs beurteilt; nun musste vielfach nach Aktenlage entschieden werden. Im Landkreis Osterholz wurden die Untersuchungen Mitte Mai 2020 vorübergehend eingestellt. Für Eltern und Kitas boten Gesundheitsamt und Jugendamt fortan eine Beratung im Einzelfall an.

Der aktuelle Jahrgang für den Start ins Schuljahr 2021/2022 wird jedoch aller Voraussicht nach beinahe restlos begutachtet werden können, teilt Verwaltungssprecherin Jana Lindemann auf Anfrage der Redaktion mit: „Es stehen nur noch wenige Untersuchungen aus.“ Ohnehin stünden im Jugendamt die Fachberaterinnen mit dem Schwerpunkt Sprache stets als Ansprechpartnerinnen für die Einrichtungen zur Verfügung, betont Lindemann. Der Grund liegt auf der Hand: „In allen Kitas im Landkreis ist die Förderung der Sprachentwicklung der Kinder ein zentrales Thema.“

„Weniger Fortschritte gemacht“

Die Einrichtungen können jederzeit „konkrete Unterstützungsanregungen zur Sprachentwicklung von Kindern“ in Anspruch nehmen. Und dabei habe es sich dann auch gezeigt: „Bei Einzelberatungen ist feststellbar gewesen, dass ein Teil der Kinder mit entsprechendem sprachlichen Förderbedarf in der coronabedingt Kita-freien Zeit weniger Entwicklungsfortschritte machen konnte.“

Systematisch erhoben wurden die Rückstände und Ressourcen bislang noch nicht, sodass der Landkreis Osterholz zurzeit keine Angabe über Zahlen und Größenordnungen machen möchte. In einigen Monaten werde es aber eine Auswertung der Schuleingangsuntersuchungen 2021 geben, kündigt Lindemann an. Das Ergebnis müsse zunächst noch abgewartet werden; dann werden auch Quervergleiche möglich sein.

Belastbare Zahlen liegen für das Jahr 2019 vor: Seinerzeit gab es für 971 der 1042 untersuchten Kinder eine Schulempfehlung, für 121 Kinder hingegen schien laut Gesundheitsamt der Verbleib in der Kita ratsam - überwiegend auch aus Altersgründen, weil diese Kinder das sechste Lebensjahr zwischen 1. Juli und 30. September vollendeten. Sie heißen umgangssprachlich Flexi-Kinder - wer noch jünger ist, gilt als Kann-Kind. Von den insgesamt 276 Flexi-Kindern des damaligen Jahrgangs wurden 186 letztlich eingeschult. Bei der Sprachstandserhebung machten von den 1042 untersuchten Kindern 74 erhebliche Fehler.

Cuxland verfehlt 100 Prozent

Der Landkreis Cuxhaven stand und steht vor ähnlichen Problemen wie die Osterholzer. Dort werden aus Zeitgründen die Flexi-Kinder nun nicht erneut untersucht, denn bei ihnen könne von einer Weiterentwicklung ausgegangen werden, so der kinder- und jugendärztliche Dienst der Kreisbehörde. „Priorität haben die Kinder, bei denen ein nicht ganz eindeutiger Förderbedarf zu erkennen ist.“

Der Jahrgang, der im vergangenen August eingeschult wurde, konnte im Cuxland zu 72 Prozent begutachtet werden; alle Anstrengungen galten dem Kampf gegen die Corona-Pandemie. Inzwischen ist klar, dass man die 100-Prozent-Quote in diesem Jahr erneut verfehlen wird: „Längst nicht alle schulpflichtigen Kinder können vor Schuljahresbeginn noch zu einer Untersuchung eingeladen werden“, teilte die Kreisverwaltung Cuxhaven Mitte April mit.

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Andere Zeiten, andere Probleme

Der Übergang vom Kindergarten in die Schule gilt als so bedeutend, dass die Teilnahme an der Schuleingangsuntersuchung gesetzlich vorgeschrieben ist. Zwar sind Eltern, Pädagogen und Mediziner seit Einführung der Vorsorgeuntersuchungen mit dem gelben U-Heft über den Entwicklungsstand der Kinder wesentlich besser im Bilde als in früheren Generationen. Doch auch die gesundheitlichen Probleme sind heute andere als damals. Der Landkreis Osterholz nennt Konzentrationsstörungen und Allergien, Übergewicht und Sprachstörungen, die den Kindern und Eltern, Erziehern und Lehren zu schaffen machen.

Die beinahe einstündige Untersuchung im Gesundheitsamt ist daher als Früherkennung konzipiert. „Sie soll kleine Schwierigkeiten, die in der Schule zu einem großen Problem werden könnten, rechtzeitig feststellen und die Eltern beraten, was sie bis zur Einschulung noch für ihr Kind tun können“, so die Kreisbehörde. Dazu füllen die Eltern einen vierseitigen Fragebogen aus, den das Gesundheitsamt im Internet hinterlegt hat. Ihre Entscheidung soll dann jeweils bis 1. Mai vorliegen.

Der Check umfasst unter anderem Parameter wie Hören, Sehen, Gewicht, Impfstatus und den Stand der medizinischen Vorsorge sowie Sprachstand und Förderbedarf. Die Kriterien sind in einem einheitlichen Katalog namens Sopess hinterlegt (Sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen), zu dem eigenes Diagnosematerial gehört.

Zuletzt gab es unter den Einschulungsorten stets eine festgelegte Abfolge, nach der dann vom Herbst bis zum Frühjahr der Reihe nach eingeladen wurde: Hambergen, Grasberg, Lilienthal, Osterholz-Scharmbeck, Ritterhude, Schwanwede, Worpswede.

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