Landkreis Osterholz. Auf den ersten Blick ist in diesem Frühling alles wie immer: Kohlmeisen werben lautstark von höherer Warte aus um Weibchen und vertreiben Rivalen. Eine Etage tiefer ist die Blaumeise dabei, Moose, Gräser und Federn für ihr Nest zu sammeln. Aber die Idylle trügt. Zwischen altem Laub liegt eine tote Meise. Und sie ist nicht die einzige. Aus dem gesamten Bundesgebiet werden dem Bundesverband des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) derzeit kranke und tote Meisen gemeldet. „61 Verdachtsfälle waren es heute“, teilt Lars Lachmann vom Vogelschutz-Team des Nabu-Bundesverbandes mit. Suttonella ornithocola grassiert offensichtlich wieder.
Der Erreger, ein Bakterium der Familie Cardiobacteriaceae, hat erstmals in 2020 zu einem Massensterben von Meisen in Deutschland geführt. Am häufigsten betroffen: Blaumeisen. Aber auch viele Tannen- und einige Kohlmeisen sowie die nicht zur Meisenfamilie gehörende Schwanzmeise starben. Auf die Bitte der Naturschützer hin, Verdachtsfälle zu melden, erreichten den Nabu bis Ende 2020 mehr als 24.000 Hinweise. Um eine Vergleichbarkeit herzustellen, wurden die Zahlen ins Verhältnis zur Einwohnerzahl gesetzt. Aus dem Landkreis Osterholz wurden demnach 60 bis 89 kranke oder tote Vögel pro 100.000 Einwohner im Vorjahr gemeldet. Insgesamt gingen 400 tote Vögel zur Untersuchung an Labore. Die Hälfte von ihnen war an dem Bakterium gestorben.
Und nun sterben wieder Blaumeisen. 900 Verdachtsfälle liegen dem Nabu für 2021 inzwischen vor. „Ja, Suttonella ornithocola ist zurück; aber das war auch zu erwarten“, sagt Lars Lachmann. Noch stehe nicht fest, ob es eine Epidemie ist oder der Erreger diesmal weniger Vögel tötet. „Seit Beginn des Jahres sammeln wir Meldungen.“ Ab Mitte März stieg ihre Zahl deutlich. Dass stimme mit dem Verlauf von 2020 überein. Auch da begann das große Sterben Mitte März, erreichte Mitte April seinen Höhepunkt und war Ende April vorbei. „Voriges Jahr hatten wir zu dieser Zeit über 1000 Verdachtsfälle an einem Tag“, berichtet Lachmann. Die Auswertung der bisher vorliegenden Meldungen weise zudem daraufhin, dass der Schwerpunkt der Ausbreitung sich nach Norden verlagert hat. „Letztes Jahr kamen die meisten Meldungen aus einem Streifen von Luxemburg bis West-Thüringen; dieses Jahr beginnt es im nördlichen Westfalen und betrifft ganz Norddeutschland.“
Erste Fälle in England
Was die Infizierung betrifft, so wird davon ausgegangen, dass das Bakterium mit feinsten Teilchen über die Luft übertragen wird. Die erkrankten Vögel zeigten eher unspezifische Symptome wie Apathie und gesträubtes Gefieder. Häufig hätten sie Atembeschwerden, litten an Lungenentzündung. Bei Laboruntersuchungen wurde festgestellt, dass ihre Mägen leer waren. Sie hatten schon längere Zeit vor ihrem Tod nichts mehr gefressen. Durch andere Meldungen wissen Lachmann und seine Kollegen, dass die kranken Vögel scheinbar unstillbaren Durst haben. Alle Beobachtungen passen aber ebenso gut auf andere Krankheiten. Gewissheit kann daher nur eine Laboruntersuchung geben.
Die ersten Fälle des Meisensterbens wurden 1996 aus Großbritannien gemeldet. Damals wurde das Bakterium als Erreger identifiziert. Von da an wurden immer zur selben Zeit einige tote Vögel in England gefunden, berichtet der Nabu. Außerhalb Großbritanniens trat Suttonella schließlich 2017 zum ersten Mal auf: in Finnland. 2018 starben in Deutschland die ersten Meisen. Ein Massensterben, wie in 2020, sei bis dahin nicht vorgekommen. Allerdings weist der Nabu darauf hin, dass die Ausbrüche erst seit 2005 systematisch untersucht werden.
Welche Vogelarten erkranken können, steht noch nicht fest. Neben den erwähnten Meisenarten, bei denen der Erreger nachgewiesen wurde, vermuten Lachmann und seine Kollegen, dass auch andere Singvögel sich infizieren können. Hinweise darauf gab die „Stunde der Gartenvögel“ im vorigen Jahr. Teilnehmer der Aktion zählen eine Stunde lang Vögel und melden ihre Ergebnisse dem Nabu. Da die Aktion 2020 bereits zum 16 Mal stattfand, lagen Vergleichszahlen vor. Mit dem Ergebnis: „Dort, wo viele Meisen gestorben waren, wurden auch weniger Rotkehlchen und Goldammern gezählt“, so Lachmann. Er und seine Kollegen vermuten daher, dass zumindest diese Vogelarten ebenfalls an Suttonella erkranken können.
Die einzige Möglichkeit, die Krankheit unter den Vögeln in den Griff zu bekommen, so erklärt der Nabu, sei, an den Futterstellen auf Hygiene zu achten und im Zweifelsfall das Füttern vorübergehend einzustellen. Menschen und Haustiere erkranken nach jetzigem Wissenstand übrigens nicht an Suttonella ornithocola.
Naturschützer bitten um Hinweise:
Wie schon im Jahr 2020 bittet der Naturschutzbund Deutschland auch jetzt wieder darum, dass ihm Verdachtsfälle von Meisen und anderen kleinen Vögeln gemeldet werden, die an Suttonella ornithocola erkrankt oder gestorben sein könnten. Der Verband hat dazu ein Meldeformular ins Internet gestellt (https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/gefaehrdungen/krankheiten/suttonella/meisensterben.html). Beim Ausfüllen des Fragebogens bittet der Nabu um möglichst genau Angaben zu Fundort, Funddatum und den näheren Fundumständen und zu den Symptomen der Vögel. Die so zusammengetragenen Daten wertet der Nabu aus und stellt sie weiteren Wissenschaftlern zur Verfügung. Auf diese Weise könnten sie das Ausbruchsgeschehen verfolgen, geografisch zuordnen und mögliche Ursachen und Auswirkungen identifizieren. Tote Vögel, so teilt Lars Lachmann vom Nabu mit, können zwecks Untersuchung zum örtlichen Veterinäramt gebracht oder ans Bernhard-Nocht-Institut nach Hamburg geschickt werden.