Fußgängerzonen sind eine Erfindung aus dem vergangenen Jahrhundert. Ab den 1970er-Jahren sollten sie den Massenkonsum zum Erlebnis machen. Etwa 50 Jahre später ist das Konzept für Einzelhändler und Stadtplaner zum Bremsklotz geworden. Die autofreie Einkaufsmeile hat vielerorts ausgedient. Dafür gibt es Gründe.
Die Idee klingt einfach wie wirkungsvoll: Indem die Autos aus den Zentren verbannt werden, erhalten die Fußgänger und die Radfahrer mehr Raum. Es gibt weniger Lärm und weniger Abgase, dafür mehr Umsatz und Lebensqualität. Das ist die Rechnung, die aus Sicht vieler Einzelhändlern nicht mehr aufgeht. Fakt ist: Autos aus den Zentren zu verbannen und Konsumenten mehr Raum und Wohlfühlatmosphäre zu geben, hat den klassischen Einzelhandel in Stadt- und Ortszentren nicht beflügelt, sondern ihn verkümmern lassen.
Trotz dieser Erkenntnis wird im Zusammenhang mit einem florierenden Unternehmertum immer wieder über neue Verkehrsberuhigungen in Innenstädten gesprochen. Viele Befürworter träumen von der Passage, in der tagsüber gute Geschäfte gemacht werden und in der an lauen Sommerabenden gedeckte Tische für ein gemeinsames Abendessen aufgestellt sind. Es könnte doch so schön sein, wenn Handel, Wohnen und Leben wie im Prospekt funktionieren würden. Die Realität in Deutschland ist eine andere.
Zeichen des Verfalls
Die Innenstädte trocknen finanziell aus. In vielen Zentren zeigen sich die Zeichen des Verfalls. Sie sind für jeden sichtbar, der es sehen will. Abgeklebte oder kahle Schaufenster, Ein-Euro-Läden, Spiel- und Automatenhallen. Zig Geschäfte stehen leer. Manche Kommune hat Schwierigkeiten, den Leerstand mit sogenannten Zwischennutzungen zu kaschieren. Der Handel in den Fußgängerzonen hat kapituliert: Selbst ausgefuchste Geschäftsleute sehen sich nicht mehr in der Lage, die aufgerufenen Mietpreise zu erwirtschaften. Aufgrund dieser Sachlage müssen sich auch Idealisten eingestehen, dass das Experiment autofreier Innenstädte in kommerzieller Hinsicht vielerorts gescheitert ist. Das gilt für zahlreiche große Städte genauso wie für Klein- und Mittelzentren auf dem Land.
Das Sterben setzte weit vor Online-Handel und Lockdown-Phasen ein. Der Niedergang des Einzelhandels begann so richtig in den 1990er-Jahren. Natürlich gibt es individuelle Gründe für eine jeweilige Geschäftsaufgabe. Gleich bleibt, dass sich die Beteiligten bis zuletzt gegen das drohende Ende stemmen. Zuvor aber hören Stadtbedienstete und Gewerbetreibende mutmachende Vorträge von Verkaufsprofis. Gemeinsam suchen sie nach erfolgversprechenden Lücken. Sie wollen verbliebene Chancen nutzen, versprechen sich den Schulterschluss und drehen doch nur an den üblichen Stellschrauben.
Weil das Geld knapp ist, will man mit wenigen Mitteln maximalen Erfolg erzielen. Wohlfühlen lautete lange Zeit das Zauberwort. Das Einkaufen soll ein Erlebnis sein, heißt es immer wieder. Hier eine Blumenampel hin, da ein Fahrradständer mehr und dann müsste der Laden doch wieder laufen, oder? Und natürlich gehören Straßenfeste und verkaufsoffene Wochenenden dazu, um Frequenz in die Stadt zu bringen. Der Lärm aber, der mit diesen Festen verbunden ist, führt in vielen Fällen zu Beschwerden und Anzeigen von Anwohnern. Denn die, die in den Innenstadtlagen vermehrt wohnen, wollen am Wochenende ihre Ruhe haben. Das ist ein weiterer Konflikt, der den Handel in den Zentren belastet. Für Frequenz sorgen nicht die Feste, sondern mittlerweile die Discounter. Wer hätte das gedacht?
Der jahrelange Kampf um den Umsatz und juristische Scharmützel mit den Nachbarn haben viele Ladenbesitzer mürbe gemacht. Das zeigt sich unter anderem am Stimmungsbild in den Gewerbevereinen. Dort streiten die Mitglieder über die Stoßrichtung und gern auch die Höhe der Mitgliedsbeiträge. Einigkeit herrscht oft nur in einem Punkt: Jeder will es nur noch bis zur Rente schaffen. Die Realität ist, dass einige Ladenbesitzer schon an Gründonnerstag, der bekanntlich einer der umsatzstärksten Tage des Jahres ist, mit Graus an neblige Novembermorgende denken. Mein Gott, was waren das für Zeiten, als die Kunden auf der Suche nach Geschenken durch die Passagen strömten! Nun aber ziehen sich die Händler beim Gedanken an den Umsatz in der Vorweihnachtszeit lieber die Decke über den Kopf.
Einige halten trotz aller Widrigkeiten bewundernswert durch. Manche machen das aus Trotz, andere tun es aus Tradition. Für sie ist Aufgeben des Familiengeschäfts keine Option, sagen sie. Zur Wahrheit gehört, dass sie es sich leisten können, weil sie keine Miete für ihr Lokal zahlen müssen. Ihnen gehört der Laden längst. Den fetten Jahren sei Dank.
Diese Ladenbesitzer ziehen so lange durch, bis sie ihr Geschäft aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Wer Glück hat, kann sein Lebenswerk verkaufen. Das stellte in Zeiten, als Zinsen niedrig und Kredite günstig waren, kein Problem dar. Die Investoren standen Schlange, um aus leer stehenden Geschäften in bester Lage neuen Wohnraum zu machen. Nun hat sich auch diese Aussicht eingetrübt: Fehlende Fachkräfte, Lieferengpässe beim Baumaterial und restriktive Kreditvergabe aufgrund gestiegener Lebenshaltungskosten schrecken Immobilienkäufer ab. Auf dem Mietmarkt sieht es da vergleichsweise besser aus. Zumindest die Büromieten steigen leicht an.
Hohe Quadratmeterpreise
Deswegen versuchen andere, ihren Betrieb zu verpachten. Die Suche nach Pächtern für Läden in autofreien Zonen verläuft zäh. Wer will schon in eine Fußgängerzone ziehen, in der der Kundenstrom versiegt? Die aufgerufenen, saftigen Mietpreise tun ihr Übriges. Die hohen Quadratmeterpreise in öden Einkaufsstraßen schrecken neue Mieter ab.
Also übernimmt die Dienstleistungsbranche die Standorte. Wo der Buchladen war, ist nun das neue Versicherungsbüro. Im Schuhgeschäft nebenan residiert nach einem Umbau eine Arztpraxis. Endlich ist Leben in der Stadt, aber mit Einzelhandel, der über Jahrzehnte die klassische Einkaufsstraße prägte, hat das nichts mehr zu tun.
Das Geld ist nicht weg, es ist nur anderswo, heißt es bekanntlich. Es kursiert in den Einkaufszentren, die wegen des störenden Kundenverkehrs außerhalb der Ortszentren gebaut wurden. Nicht alle Einkaufszentren funktionierten auf Anhieb. Doch irgendwann überzeugten die Argumente die Konsumenten: Im Einkaufspark gibt es Stellplätze scheinbar im Überfluss. Es gibt Angebote, Auswahl und jede Menge Trubel. Die Imbissbude wird zum Treffpunkt, sogar Markthändler und Kinderfahrgeschäfte sind vor Ort. Ob man das mag, ist nicht die Frage. Fest steht, dass die Konsumenten da sind, wo sie sich in aller Bequemlichkeit willkommen fühlen – und wo etwas los ist. Und gerade auf dem Land ist in den Innenstädten tagsüber nichts mehr los. Diese Erkenntnis tut weh.
An der Hamme, unweit der Bremer Landesgrenze, hat man die Entwicklung erkannt und gegengesteuert. In Ritterhude hat der Gemeinderat vor acht Jahren den Beschluss gefasst, auf einem brachliegenden 17.000 Quadratmeter großen Grundstück in der Ortsmitte einen neuen Marktplatz zu errichten. Die Politik und Verwaltung entschieden sich damals bewusst dafür, vermeintlich mehr Autoverkehr in der Ortsmitte zu lassen. Die Befürworter steckten dafür anfangs herbe Kritik ein. Bürger sorgten sich um die Wohn- und Lebensqualität, Investor und Verkehrsgutachter versuchten zu beruhigen.
Die Beteiligten einigten sich 2015 darauf, das Vorhaben umzusetzen. 2016 wurde die neue Ortsmitte mit 180 Parkplätzen eingeweiht. Ein Discounter zog aus dem örtlichen Gewerbegebiet ins neue Zentrum, ein zweiter Supermarkt kam hinzu. Das löste einen Sogeffekt aus. Eine Apotheke, ein Drogeriemarkt und ein Schuhgeschäft folgten. In regelmäßigen Abständen ist Markttag. Andere Geschäfte blieben an ihrem angestammten Platz und konnten dennoch vom neuen Kundenstrom profitieren.
Ein Gutachten ging damals davon aus, dass etwa 80 Prozent mit dem Auto zum Einkaufen fahren, knapp 20 Prozent kommen zu Fuß oder benutzen das Rad, so ein Befragungsergebnis. Die Daten überraschten einige Ritterhuder. Jetzt läuft es so gut, dass weitere Parkplätze geschaffen werden, um den Standort zu stärken, wie es aus dem Ritterhuder Rathaus heißt. Auch ein Café als neuer Treffpunkte für den Marktplatz ist gerade in Planung.
Es geht nun nicht darum, dass alles gut ist, wenn der Autoverkehr rollt. Auch kann man über das Aussehen des geklinkerten Funktionsbaus an der Riesstraße streiten. Und sicherlich gibt es in der Betrachtung von Projekten in großen Städten und in ländlichen Zentren bedeutende Unterschiede. An diesem Beispiel zeigt sich dennoch, dass der Einzelhandel aufblühen kann, wenn Autoverkehr in Maßen zugelassen wird. Es stellt sich also die Frage, was eine Kommune will. Entweder sie will funktionierenden Einzelhandel und lässt Autoverkehr zu, oder sie möchte eine autofreie Ortsmitte. Dann aber wird der Einzelhandel aus den Zentren verschwinden. Ob das am Ende zu mehr Lebensqualität führt, ist fraglich.