Landkreis Osterholz. Mit der Inklusion befindet sich an den Schulen im Landkreis Osterholz ein pädagogisches Programm auf dem Vormarsch, das die sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen besser fördern soll. Es heißt ETEP und wird von zertifizierten Multiplikatoren in die Kollegien getragen. Eine von ihnen ist Jessica Lindemann, die als Förderschullehrerin am Lernhaus im Campus tätig ist. Lindemann stellte jetzt dem Kreistagsausschuss für Bildung vor, was sich hinter der Abkürzung verbirgt.
ETEP steht demnach für Entwicklungstherapie / Entwicklungspädagogik und fußt auf Erkenntnissen der US-Amerikanerin Mary M. Wood aus den Neunzigerjahren. Wood hat sich über Jahrzehnte in Theorie und Praxis mit verhaltensauffälligen Kindern befasst. Ihr Förderkonzept, so Lindemann, sei geeignet für den Einsatz in Frühförderung und Kita sowie Grundschule und Sekundarbereich I. Kinder seien heute auffälliger als vor 20 Jahren, so der Befund des ETEP-Coaches. „Sie verfügen seltener über effektive Strategien für die Kommunikation und den Umgang mit Wut und Frustration.“ Darauf müsse Schule reagieren.
Es gehe bei ETEP aber nicht um Defizite, sondern um Stärken und Fähigkeiten – und damit nicht zuletzt darum, „als Lehrkraft wieder handlungsfähiger zu werden“. Zentrales Instrument für die Lehrkraft ist ein sogenannter Lernziel-Diagnose-Bogen. Darin wird vermerkt, auf welcher Entwicklungsstufe sich das Kind hinsichtlich Verhalten, Kommunikation, Kognition und Sozialisation befindet. Jeder dieser vier Bereiche ist in fünf alterstypische Stufen unterteilt – vom Kleinkind bis zum 16-Jährigen. So erhalten die Pädagogen ein individuelles Schülerprofil, anhand dessen sie die jeweils nächsten Entwicklungsziele in den Blick nehmen.
Verstehen lernen
„Das Diagnosewerkzeug macht die Lehrkräfte gelassener, weil es bei der Entschlüsselung der Verhaltensweisen hilft“, erklärte die Lehrerin. Handelt es sich um Abwehrmechanismen? Welche Entwicklungsängste sind prägend? Hat ein Kind Krisen durchlaufen? ETEP hilft den Lehrkräften bei der Suche nach Antworten und gibt ihnen je nach Entwicklungsstufe und -bereich „pädagogische Interventionsmöglichkeiten“ an die Hand. Statt sich als gescheitert zu erleben, wachse so das Verständnis dafür, was ein Schüler womöglich einfach auch noch nicht können kann. Lindemann: „Das ist alles wissenschaftlich fundiert, aber letztlich ist es eine Frage der Haltung.“
Nach ihren Worten ist das System in jedem beliebigen Unterrichtsfach anwendbar. „Die Förderziele lassen sich in die Stundenplanung und Gestaltung einbauen.“ Dabei würden die Zielsetzungen offen benannt und die Schüler an der jeweiligen Einschätzung beteiligt, und das gehe so: Alle Förderziele werden positiv formuliert und zunächst auf einer Vorhabenwand gesammelt. Zwei davon werden dann für ein paar Wochen ausgewählt und intensiver verfolgt, bis sie auf der sogenannten Stolz-Wand landen können, auf der das Erreichte festgehalten wird.
Der Landkreis lässt die ETEP-Fortbildungen den Lehrkräften angedeihen, deren Schulen sich der Qualitätsinitiative „Beste Bildung“ angeschlossen haben. Dabei melden sich je Schule drei Lehrkräfte für zwei mal 20 Zeitstunden an (donnerstagnachmittags bis sonnabendabends). „Es ist Eigeninitiative nötig, man muss allerhand lesen und sich auch in der Kleingruppe treffen.“ Abschließend folgen drei Praxisphasen, in denen die Lehrkräfte bei ihrem Unterricht von der ETEP-Trainerin beobachtet und beraten werden; sie sind damit aber nicht befugt oder befähigt, ihr Kollegium zu qualifizieren. Das Düsseldorfer ETEP-Institut (www.etep.org) legt viel Wert auf Qualitätssicherung und beobachtet auch die Arbeit seiner Coaches.
In der ersten Runde haben Lindemann und drei weitere regionale Trainer jeweils annähernd 15 Lehrkräfte geschult. Ein größerer Kreis sei zurzeit nicht darstellbar, sagte Projektleiter Markus Stöckl, der sich bei „Beste Bildung“ um mehr als 20 Mitgliedsschulen kümmert.
Die Sozialdemokratin Elke Schnakenberg hatte angeregt, die Fortbildung auch Kita-Erzieherinnen anzubieten. Schnakenberg, selbst pensionierte Lehrerin, setzte hinzu, eigentlich gehöre die entwicklungspädagogische und -therapeutische Diagnostik zwingend zur Lehrerausbildung. „Es gibt viele verhaltensoriginelle Kinder, da stehen die Lehrer dann hilflos da.“ Schnakenberg nannte beispielhaft den mehrfach ausgezeichneten Kinofilm „Systemsprenger“.
Heike Schumacher bestätigte, die Nachfrage aus den Schulen sei groß. „ETEP ist ein Superprojekt im Hinblick auf die Anforderungen, die es heute in den Schulen gibt.“ Zu den Ursachen, nach denen sich Niels Gieschen (AfD) erkundigt hatte, sagte sie: „Kinder wachsen heutzutage in einem sehr freien Umfeld auf, haben alle Möglichkeiten des Medienzugangs.“ Auch die Rollen und Strukturen in den Familien hätten sich verändert. Jessica Lindemann bestätigte: Erziehung werde stärker hinterfragt; auch bei Erwachsenen nehme auffälliges Verhalten zu. Herbert Hahndrich (CDU) sagte an Gieschens Adresse gerichtet, derlei sei ein allgemein gesellschaftliches Phänomen und nicht von Nationalität oder sozialer Schicht abhängig.
Bettina Rolf-Pissarczyk (CDU) ließ sich versichern, dass mit ETEP die Aufmerksamkeit für den Förderbedarf nicht zulasten der Kinder ohne solchen Förderbedarf gehe. „Das kann ich als Lehrkraft steuern“, versicherte Lindemann. Niels Gieschen aber hakte nach und erfuhr von Lindemann, dass sie zwar die Inklusion klar befürworte, nicht aber die Abschaffung aller Förderschulen. „Ein großes Problem sind die Ressourcen“, sagte sie. Die sonderpädagogische Versorgung des Lernhauses liege bei gerade mal 75 Prozent, weil es keine Fachkräfte gebe. Während Heike Schumacher erklärte, sie halte den Gedanken der Inklusion für „unschlagbar“, erklärte Lindemann: „Nach mehr als 20 Jahren im Beruf sehe ich Anzeichen dafür, dass nicht jedes Kind im inklusiven System beschulbar ist.“