Es ist Punkt neun Uhr, die Tür zum Café Erasmie wurde gerade aufgeschlossen, da stehen schon fünf Kunden an der Theke. Einer verlangt fünf Stück Käsetorte und zwei Bienenstich, ein anderer möchte eine Hochzeitstorte abholen und eine Frau stellt sich eine Mischung weißer, brauner und dunkler Pralinen zusammen, mit denen ein Trupp der Bundeswehr im Krisengebiet wohl eine ganze Woche lang durchhalten könnte. Alle Kalorienbomben, die der Laden zu bieten hat, das erklärt Inhaberin Sibylle Jackl, werden im hinteren Bereich der lang gezogenen Konditorei im Herzen Verdens selbst hergestellt.
Dort arbeiten an diesem Morgen in der Vorweihnachtszeit alle auf Hochtouren, der größte Teil des Jahresumsatzes wird jetzt gemacht. Was an Überstunden anfällt, wird im Sommer abgebaut, sagt die Chefin, die den Traditionsbetrieb vor vier Jahren übernommen hatte. Die Pralinen werden für alle Gäste sichtbar in einem Glaskasten produziert. Hier stehen Marion Böhlke und Lynn Kontor in weißer und schwarz-roter Kluft, die Haare unter einer Bäckermütze versteckt. Zahlreiche Bleche stapeln sich hinter ihnen in einem Metallregal übereinander, alle bestückt mit kleinen Kugeln in dunkelbrauner Farbe: Heute sind Zartbitter-Pralinen an der Reihe.
Die Finger von Marion Böhlke sind schon zur Hälfte mit nass-glänzender Schokolade bedeckt, die in einem Strahl in Endlosschleife durch die sogenannte Überziehmaschine läuft. 25 000 Euro koste so ein Gerät, sagt Chefin Jackl. Die 49-Jährige hat es vor zwei Jahren gekauft, weil die Handproduktion nicht mehr zu schaffen gewesen sei. Böhlke legt die mit Trüffelmasse am Vortag gefüllten Hohlkörper auf das Laufband und lässt sie durch den Schokostrahl fahren.
Auf der anderen Seite wenden die beiden Konditorinnen die runden Köstlichkeiten mit einer Überziehgabel auf dem Gitter, sodass die glatte Kuvertüre eine gekräuselte Oberfläche bekommt. Die, erklärt Jackl, werde übrigens aus einem belgischen Werk angeliefert: „Drei Tonnen verbrauchen wir davon im Jahr.“ Je nach Bedarf werden die Pralinensorten nachproduziert und der Tank mit der entsprechenden Schokoladensorte befüllt.
Nebenan in der Backstube ist es um ein paar Grad wärmer, es duftet nach Äpfeln und gebackenen Keksen. Klassiker wie Zimtsterne und Nussmakronen werden nach wie vor gern genommen, hinzugekommen sind in den vergangenen Jahren Kreationen wie die Smiley-Kekse, deren Marmeladengesichter vom Blech lächeln.
Weihnachten ist das Fest der Traditionen, und so bleiben viele auch den Süßigkeiten treu, die es zu diesem Anlass gibt. Dem stimmt Sibylle Jackl weitgehend zu – allerdings gebe es auch doch ein paar Änderungen im allgemeinen Geschmack. „Königsberger Marzipan war früher mal in, läuft heute aber einfach nicht mehr“, sagt die Geschäftsführerin.
Um 3.30 Uhr in der Frühe erscheint die erste Mitarbeiterin in der Backstube, um den Teig zuzubereiten und vorzubacken – vieles muss vor der Weiterverarbeitung auskühlen. Ab 7.30 Uhr kommt dann Unterstützung. 1000 Eier von einem Geflügelhof aus der Region werden hier im Monat unter anderem verarbeitet, erzählt Jackl. Soweit möglich beziehe sie ihre Ware von kleineren Familienbetrieben. „Da lege ich schon Wert drauf – ich bin ja schließlich auch einer“, sagt Jackl. Wenn aufwendigere Bestellungen wie eine Hochzeitstorte reinkommen, rotieren ihre Mitarbeiter. „Eigentlich ist das gar nicht zu bezahlen“, sagt Jackl und lacht. Die Torte an sich sei nicht das Problem, aber das Dekor. Jedes Element werde von Hand geformt, was zwölf bis 14 Stunden in Anspruch nehme.
Die beanspruchten Hände der Mitarbeiter werden von Maschinen unterstützt, wie einem Ofen, der gerade ein „Highlight“ an Weihnachten backt: den Baumkuchen. Inge Siems füllt die „Drei-Kessel-Masse“, wie sie den Teig nennt, bei dessen Herstellung Eigelb und Eiweiß getrennt aufgeschlagen werden, in eine Wanne an der Baumkuchenmaschine. Wie an einem Hähnchenspieß wird das Backwerk kontinuierlich am offenen Feuer gebacken, und dann kurz durch die nächste Schicht Teig gedreht – 20 sollen es am Ende sein. „Kann noch“, meint Siems. Um die Rillen zu erzeugen, wird die überschüssige Masse mit einer Art Kamm entfernt. Drei bis vier Stunden dauere die Herstellung insgesamt, sagt Jackl. So richtig wird sie erst wieder im Frühling durchatmen können. Die Nachfrage gehe bei Pralinen und Co. zwar ab Januar zurück, dafür sei das Café dann aber gut gefüllt, erzählt sie und unterdrückt einen kleinen Nieser. Krank sein – das geht für sie erst wieder nach Weihnachten.
Die Konditorei Erasmie hat ihren Namen von Günther Erasmie, der das Café an der Großen Straße 1964 übernommen hatte, das dort schon seit 1905 betrieben wird. 1990 kam dann Hans-Georg Schulz, auf den 2011 Sibylle Jackl folgte.